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Die Misere des Schauspielers

Für diese Misere gibt es ein bekanntes Beispiel: In einer Theaterszene soll es brennen und es qualmt auch schon ganz ordentlich. Da fängt es an zu brennen. Der Schauspieler sollte eigentlich nur in Richtung Qualm deuten und in überzeugender Weise „es brennt“ schreien; das tut er jetzt auch, und zwar besser als in den Proben. Zur Überraschung der Regie fügt er quasi extemporierend „wirklich“ hinzu und „so glaubt mir doch“ – es hilft nichts, das Publikum glaubt ihm nicht. Er rauft sich die Haare, die schon den Duft der Wirklichkeit annehmen, und schreit nochmals „es brennt, das ist kein Scherz“, bevor er verschwindet und den für ihn größten Beifall erntet.

Damit habe ich vielleicht ein wenig übertrieben, doch die Frage ist ohnedies, welches allgemeine Muster mit diesem Beispiel überhaupt dargestellt werden soll. Darauf findet man zwei gegensätzliche Antworten, die ich kurz „konventionell“ und „unkonventionell“ nennen möchte. Die Misere weist nach der einen Lesart nämlich auf das Vorhandensein von gewissen Konventionen hin, nach der anderen auf das Fehlen derselben. Auf der einen Seite, auf der sich größtenteils die Literatur- und Kulturwissenschaft ausbreitet, gibt es so etwas wie einen „sozialen Pakt“, einen Vertrag zwischen Publikum und Schauspieler, der ähnlich dem zwischen Dichter und Leser irgendwie „stillschweigend“ geschlossen und durch paratextuelle Zeichen, Rampen und Rahmen markiert wird. Die Misere des Schauspielers besteht dann darin, dass sich das Publikum auf die Einhaltung dieses Paktes ebenso stillschweigend verlässt, und zwar zurecht, wie man sagen muss.

Auf der anderen Seite besteht die Misere ganz im Gegenteil im Fehlen einer derartigen Übereinkunft. Dass sie fehlt, ist nach dem Philosophen Donald Davidson, von dem ich das Beispiel und auch den Ausdruck einer „Misere des Schauspielers“ übernommen habe, kein Mangel, dem man Abhilfe verschaffen könnte, etwa dadurch, dass man den erwähnten „Vertrag“ in einer expliziten Form aufstellt und dem Bühnenrand oder der Hausordnung hinzufügt. Das Fehlen eines „Fiktionsvertrags“ oder „Täuschungsvertrags“, wie er auch genannt wird, ist vielmehr ein notwendiges Fehlen, wenn man so sagen kann. Denn, so das Argument von Davidson, ein solcher Vertrag würde spiegelbildlich einen Vertrag gewöhnlicher Sprechakte voraussetzen, eine Konvention der Nicht-Fiktion oder „Nicht-Täuschung“, also der „ernsthaften“ und „aufrichtigen“ Behauptungen einer „Alltagswirklichkeit“, wie es in dem Zusammenhang oft etwas herablassend heißt. Gäbe es eine solche Konvention, so wäre der Schauspieler der Erste, der davon Gebrauch machen würde, ganz einfach, weil es ein Mittel wäre, „authentisch“ zu wirken. Umgekehrt würde niemand, der tatsächlich für jemanden so tun möchte, als ob, mit ihm einen Vertrag zum Fingieren schließen, wie Davidson sagt. Und wenn es im Theater so wäre, dass die Rampe eine derart „konventionelle Umgebung“ schafft, dass stinknormale Behauptungen in ihr nicht mehr als Behauptungen gelten, anders gesagt, dass der Gebrauch der Sprache in dieser Umgebung kein wirklicher Sprachgebrauch mehr ist, dann würde es in keinem Theater mehr eine Rampe geben.

Gerhard Spring
© Marion Kalter
Die vertikale Konvention verdient besondere Aufmerksamkeit, nicht nur, weil man im Gebrauch der normalen Sprache wissen sollte, wie sie zu befolgen ist, sondern weil man sie auf der höheren Stufe der Kunst, auf der neben dem Schauspieler auch der Dichter auftritt, regelrecht verneinen oder quasi „missbrauchen“ muss.

Das wirkt vielleicht wie eine übertriebene Reaktion auf das gegenteilige Muster, das von John Searle entwickelt wurde und als Pretense Theory Eingang in den theoretischen Diskurs gefunden hat. In dem oft zitierten Buch Ausdruck und Bedeutung findet man auch leicht die gesuchte Konvention, und zwar als „horizontale Konvention“, wie Searle sie nennt. Ihre Aufgabe besteht darin, die „vertikale Konvention“, mit der, kurz gesagt, die Zeichen mit den Dingen aus der „Alltagswirklichkeit“ regelrecht verknüpft sind, mit einem langen Strich durchzustreichen. So gesehen ist es diese vertikal aufgerichtete Konvention, auch „Konvention der Aufrichtigkeit“ genannt, die der Schauspieler in seiner Misere brauchen würde – und aus Gründen der horizontalen Konvention, auf die er festgelegt ist, nicht gebrauchen kann. Die vertikale Konvention verdient besondere Aufmerksamkeit, nicht nur, weil man im Gebrauch der normalen Sprache wissen sollte, wie sie zu befolgen ist, sondern weil man sie auf der höheren Stufe der Kunst, auf der neben dem Schauspieler auch der Dichter auftritt, regelrecht verneinen oder quasi „missbrauchen“ muss – ganz nach dem Motto des Rechtsphilosophen H. L. A. Hart, nach dem Dichtung ein „kalkulierter Missbrauch der Sprache“ ist.

Diese beiden Arten der Konventionalität zeigen, wie sehr der Versuch, Phänomene der Kunst als etwas Außergewöhnliches und Eigenständiges abzugrenzen, davon abhängt, was man von den „gewöhnlichen Dingen“ als dem Anderen hält, das draußen bleiben soll. Wie es scheint, ist die „Autonomie“ der Kunst nur um den Preis der Heteronomie von Nichtkunst zu haben, was immer das ist. Die Heteronomie eines „Alltags“, in dem es zum Beispiel wirklich brennt, ist wie in der Tragödie durch Unwissenheit bestimmt. Denn wenn ich hier einmal so ungeschminkt wie möglich behaupten möchte, dass es brennt, und dabei nicht nur glaube, dass es brennt, sondern mich auch als jemanden darstelle, der es glaubt (wie es dieser Sprechakt für gewöhnlich verlangt), dann kann ich damit einen Zweiten glauben machen, dass es brennt. Dabei können wir aber niemals wissen, ob wir auch jene Konvention befolgen, die uns und unsere Zeichen mit den Dingen verknüpft. Hier spielt immer ein Dritter hinein, ein Spielverderber, wie es offenbar der Brand für den Schauspieler ist. Auch unserem Brand ist die Konvention egal, muss es irgendwie egal sein, denn nach seiner Übereinstimmung hat ihn niemand gefragt. Darum ist es bei all unserer Konventionalität immer möglich, dass wir uns täuschen. Vor allem muss es möglich sein, dass ich als Behauptender mich selbst täusche. Die vertikale Konvention hängt also in der Luft und fällt, welche Katastrophe, von selbst um. Andernfalls, wäre auch ein Ereignis wie der Qualm, auf den ich reagierte, ein Teil unserer Übereinstimmung, dann könnten wir uns in ihr niemals täuschen. Dann haben wir aber wieder nur dieselbe Misere. Wenn der regelrecht vollzogene Sprechakt des Behauptens nicht misslingen kann, dann spricht das nur dafür, dass er nicht die Handlung ist, die wir mit einer Behauptung im Sinn haben. Wir glauben immer nur, dies zu tun, während wir vielmehr nur so tun, als ob.

Rätselhaft an der vertikalen und horizontalen Konventionalität ist vor allem das Stillschweigende, ihre zusammengefaltete Innerlichkeit, die „Implikatur“. Selten hat sie jemanden so gestört wie Gérard Genette, der sie in seinem Buch über Fiktion und Diktion explizit zu machen versucht. Grundlage dafür ist die ziemlich konventionelle Behauptung Searles, der Gebrauch der Sprache in „fiktionalen Diskursen“ wäre ein Scheingebrauch, die Handlung des Schauspielers auf der Bühne eine Scheinhandlung beziehungsweise Quasi-Handlung und so weiter, wobei das „Quasi“ auch die Vorstellungen und Affekte des Publikums betreffen soll, nur um die Übereinstimmung zu komplettieren. Wenn Searles Dichter oder Schauspieler zum Beispiel behauptet, dass es brennt, dann tut er nur so, als ob er es behauptet, desgleichen tut auch sein Publikum nur so, als ob es ihm glaubt. Das konventionelle Muster dieses gemeinsamen „So Tuns als ob“ kann man nach Genette aber nur deutlich machen, wenn man seine maskierten Sprechakte enthüllt. Dazu eignet sich ein perlokutionärer, auf Wirkung bedachter Akt wie dieser: „Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, dass es brennt“, oder noch deutlicher: „Hiermit bringe ich Sie dazu, sich vorzustellen, dass es brennt. Es brennt“. Dieser zusammengesetzte Sprechakt hat, wie Genette feststellt, eine „eigenartige Erfolgsgarantie“. Sofern man den zweiten Satz versteht, kann man gar nicht anders, als sich vorzustellen, dass es brennt. Gerade mit diesem Erfolg kehrt die Misere wieder. Denn das, was man sich hiermit vorstellt, ist nichts anderes als die Wahrheitsbedingung der „ungeschminkten“ Behauptung, dass es brennt. Mit Genette kann man daraus entnehmen, dass Aussagen durch die Einführung in fiktionale Kontexte ihren Wahrheitswert, so sie einen haben, nicht verlieren – ähnlich wie Koffer als Requisiten auf der Bühne Koffer bleiben; mit Saul Kripke könnte man auch sagen, dass die Einführung von Namen in diese scheints außergewöhnlichen Kontexte der Fiktion nichts an ihrer gewöhnlichen Referenz, so sie eine haben, ändert, doch das steht auf einem anderen Blatt. Hier geht es nur darum, dass jene Folgerung für die Pretense Theory und ihre Fürsprecher nicht erwünscht ist, weshalb Genette eine letzte Explikation versucht. So stellt sich der Dichter oder Schauspieler vor sein Publikum und sagt: „Es ist nicht wahr, dass es brennt, doch indem ich so tue, als ob es wahr wäre, bewirke ich, dass Sie daran als an einen fiktiven Sachverhalt denken“.

Angenommen, so oder so ähnlich werde der Kontext geschaffen, in dem sich die gesuchte Konvention ausbreitet. Dann erlebt man so etwas wie ein ontologisches Wunder. Die Dinge verwandeln sich in Fiktionen, ganz gleich, ob sie außerhalb existieren oder nicht. Wenn aber Wirkliches in fiktionalen Kontexten fiktiv beziehungsweise nicht-wirklich wird, wozu regt sich der Schauspieler dann auf? Für ihn und auch für das Publikum wäre es besser, er würde ganz normal weiterspielen.

Der Brand ist nicht unbedingt ein Spielverderber. Ein Regisseur soll einem Schauspieler, der mit seiner Szene nicht zurechtkam, einmal den Tipp gegeben haben: „fake it“. Sofern das hilfreich war, spricht es auch für das gegenteilige, unkonventionelle Muster. Nach ihm gibt es für das „So tun als ob“ zwar keine Spielregeln, auf die man sich verlassen und bei Verletzung berufen kann, dafür aber immer etwas, das zu verstellen ist, ganz wie es das lateinische „praetendere“ besagt – eins vors andere stellen, um es zu schützen oder zu verbergen. Dazu kommt Täuschung. Eins soll dem anderen derart ähnlich sein, dass es irrtümlich dafür genommen oder „aufgefasst“ wird. Der Schauspieler hat in seiner Szene jedoch nichts zu verbergen, außer, dass er mit ihr nicht zurechtkommt. Die Kunst war es dann, dennoch so zu tun wie jemand, der zurechtkommt. Dass beides, Zurechtkommen und Nichtzurechtkommen, einander ähnelt, war ein Glücksfall der Szene. Welcher Szene? Qualm steigt auf und, damit sich der Schauspieler auch in überzeugender Weise so darstellt wie jemand, der glaubt, dass es brennt, legt der Regisseur Feuer. Und tatsächlich, das Publikum hält die Szene irrtümlich für gelungen.

 

Gerhard Spring, geboren 1962 in Scheibbs in Nierderösterreich, hatte schon mit 11 Jahren begonnen, Musik zu studieren und sah sich seitdem als Künstler. Er, der sich sein künstlerisches Rüstzeug zuerst am Mozarteum, später an der Wiener Angewandten in der Medienkunstklasse  bei Peter Weibel erworben hat, ist vor allem in den Gebieten Filmschnitt , Katalogproduktion und Typografie  tätig. Der Computerspezialist war einige Zeit mit Julius Deutschbauer als Künstlerduo unterwegs.
Ebenso ist Spring als Autor tätig. Sein durchgängiges Interesse gilt dabei den Sprachbildern und Bildsprachen. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen unter anderem Zwialoge und Rhetorik der Muster. Er lebt und arbeitet in Wien.

Für das Burgtheater hat Gerhard Spring nun einen ESSAY zur Verfügung gestellt, den wir Ihnen als Lesestoff mit in die Spielzeitferien geben wollen.
Viel Vergnügen beim Entdecken!

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