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Ece Temelkuran

Anne Aschenbrenner & Rita Czapka

Als Habertürk, eine der großen türkischen Tageszeitungen, sich 2011 Jahre von AKP-regierungskritischen Journalist*innen trennt, ist auch sie darunter: Ece Temelkuran, Jahrgang 1973, studierte Juristin. Sie hatte zuvor mehrere kritische Artikel über den Uludere-Vorfall veröffentlicht: 34 kurdische Zivilisten waren am 28. Dezember 2011 bei einem Luftangriff des türkischen Militärs getötet worden, die türkische Regierung schob den Generälen die Verantwortung zu. 

 “Ich wurde nicht Journalistin, um dieses leere Auge zu werden, das alles wiedergibt”, sagte Ece Temelkuran in einem Interview mit DER STANDARD, das sie anlässlich einer Lesereise durch Österreich im vergangenen Jahr gab. Bei Hoffmann und Campe ist dieses, ihr jüngstes, Buch auf Deutsch erschienen: In “Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur” analysiert die Journalistin die Wege von Möchtegern-Diktatoren an die Macht. “Es beginnt ja nicht mit Inhaftierungen”, sagt Temelkuran, sondern damit, dass Leute über Populisten sagen, die seien ja gar nicht schlimm” In acht Sprachen wurde das Buch bereits übersetzt.

Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung lebt Ece Temelkuran heute in Kroatien, als "Autorin im Exil" wird sie aber nicht gerne bezeichnet: "Jeder kritisch denkende Mensch wird auf die eine oder andere Art zum Exilanten, wenn der Rechtspopulismus Fahrt aufnimmt" 

Am 25. Februar ist  Ece Temelkuran zu Gast in APROPOS GEGENWART und wird mit der Schriftstellerin Sasha Marianna Salzmann über ihre Erfahrungen und Analysen und die Frage, welche Auswirkungen die neoliberale Ideologie auf Mensch und Gesellschaft hat. „Um dem populistischen Zeitgeist entgegenzutreten und die Demokratie zu verteidigen, braucht es eine internationale Debatte, in die sich jede(r) einbringen sollte.“

Temelkurans Analysen aus “Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur”  haben wir hier in Auszügen für Sie zusammengefasst: 

 

Ece Temelkuran
© Muhsin Akgün
  • 1. Gründen Sie eine Bewegung 

    Der Begriff „Populismus“ passt gut zur heutigen Zeit. Er verschleiert die rechten  ideologischen Inhalte der betreffenden Bewegungen und umgeht zugleich die beunruhigende

    Frage nach der dubiosen Sehnsucht des Ich, zu einem Wir zu verschmelzen, zeichnet ein meisterhaftes Porträt der Verrückten, die als Zerrbilder charismatischer Führerfiguren die Massen mobilisieren, und disqualifiziert die Massen selbstbewusst als getäuschte, ungebildete Menschen.

  • 2. Zersetzen Sie das Vernunftprinzip und terrorisieren Sie die Sprache 

    Die meisten Bücher über Populismus und Totalitarismus interpretieren das Narrativ vom infantilen Populisten und seinen „getäuschten“ Anhängern, die seine Märchensprache

    gedanklich übernehmen, als eine für diese Leute typische politische Reaktion. Dabei handelt es sich weder um eine Reaktion noch um etwas Typisches, sondern vielmehr um eine logische Konsequenz der Zeiten, in denen wir leben, und um etwas, das uns alle infiziert.

    Weil kein Gesetz verhindert, dass die politische Sprache der Populisten in die Öffentlichkeit eindringt und sie zerstört, bleibt den kritischen Stimmen zuletzt nur eines, wenn die

    Wut sie fast erstickt: Sie können dann nur noch um grundlegendste ethische Verhaltensweisen betteln und auf der Straße oder in den sozialen Medien „Zeigt doch wenigstens ein bisschen Anstand!“ rufen.

  • 3. Schafen Sie das Schamgefühl ab: Im postfaktischen Zeitalter ist unmoralisches Verhalten gefragt 

    Mit dem Schwinden des uralten Monopols der Wahrheitsbestimmung wurde bedauerlicherweise auch die Autorität der Wissenschaft, des gesunden Menschenverstands und des grundlegenden moralischen Einvernehmens von den Banausen untergraben und zur Kriegsbeute im Kampf zwischen den etablierten Anführern der liberalen Demokratie und den neuen Warlords, den Chefs der Rechtspopulisten.

    Seit einigen Jahren, insbesondere seit Donald Trumps Machtübernahme, wird das Problem des Postfaktischen gern auf einen Wettkampf zwischen den Mainstreammedien und den Trollen in den sozialen Netzwerken reduziert. Es ist eben sehr bequem, dieses gewaltige politische Thema mit dem Boxkampf zwischen Rocky und dem skrupellosen Drago gleichzusetzen. 

     

  • 4. Demontieren Sie die rechtlichen und politischen Grundlagen 

    Anders als viele glauben, ist der Wendepunkt im langwierigen Prozess der Demontage von Staatsapparat und Rechtssystem nicht erst dann erreicht, wenn Kader aus gefügigen, loyalen Partei- oder Familienmitgliedern existieren. Die Möglichkeit, nach Gutdünken mit dem Staat zu spielen, eröffnet sich den Anführern bereits dann, wenn es ihnen gelingt, ihn zu unterminieren und als überflüssig erscheinen zu lassen. Während der populistische Anführer dafür sorgt, dass der Staat allgemein als überflüssig empfunden wird, befeuert er gleichzeitig mit Hilfe einer starken Propagandamaschinerie und mit Unterstützung zahlreicher ihm ergebener und von den Almosen der Partei abhängiger Menschen die Vorstellung, seine Macht und die seiner Anhänger wäre größer als die des Establishments. In der Zeit, in der keine Reaktion des Establishments auf die Verdrängung der Rechtsstaatlichkeit durch den populistischen Anführer erfolgt, entsteht eine neue Stimmung. Offenbar sendet der Anführer den Massen mit seinem ständigen Herumgefummle an den Institutionen die indirekte Botschaft: „Da, schaut, der Palast der Macht ist leer – übernehmen wir ihn!“

  • 5. Entwerfen Sie Bürger nach Ihrem Geschmack 

    Seit Anbeginn der Geschichte hat noch jedes soziale, religiöse oder politische Projekt die Frauen wie Ausschneidepuppen behandelt – ihnen das ideologische Outfit der herrschenden

    Macht angeheftet oder entrissen. Vom Naziideal der Frau, für die es nur „Kinder, Küche, Kirche“ geben durfte, über Stalins Arbeiterheldin, die „neue sowjetische Frau“, bis hin zur Kämpferin von heute, die gleichzeitig karrierebewusst und glücklich verheiratet ist, Kinder und einen flachen Bauch hat, ist der Wunsch nach Ausschneidepüppchen nie versiegt. Das Bild der Frau, und manchmal auch ihre Seele, wird nach dem Geschmack des jeweiligen Regimes geformt und wieder umgeformt. Sie soll als Schaufensterpuppe für die ideale Bürgerin werben, wie die herrschende politische Macht sie sich vorstellt. Ausnahmslos jedes Regime setzt bei den Frauen an, wenn es das Bild des idealen Bürgers zu entwerfen gilt. Einen neuen Mann zu erschaffen, dauert eine Generation; die Umgestaltung der Frau glaubt man über Nacht erledigen zu können.

    Frauen werden nicht zu politischen Heldinnen gemacht, es sei denn sie sind bereits tot. Frauen erhebt man nur selten zu Symbolen des Widerstands, um die Opposition zu mobilisieren. Genau deshalb setzen autoritäre Regime bei den Frauen an.

  • 6. Sollen sie über das Grauen lachen! 

    Der Mensch ist wirklich komisch: Weil Mut und Freude größer werden, wenn er sie teilt,  Angst und Schmerz aber kleiner, lache ich wie die vielen anderen ringsum, während mir die Tränen beißend über die Wangen laufen und der nackte Fuß auf dem Asphalt brennt. Ein Mann mit einem Tuch vor dem Gesicht brüllt mir durch das Gewimmel der fliehenden Menschen zu: „Hey, ich hab deinen Schuh! Lauf weiter!“ Als wir nach einer Weile stehen bleiben und der Typ das Tuch abnimmt, sehe ich, dass ich ihn von früher kenne. „Hier, bitte schön“, sagt er und gibt mir den Schuh. „Das Aschenputtel der Revolution!“ Wir platzen

    los, lachen so unkontrolliert, dass sich unsere Gesichter verzerren, und umarmen uns. Ich weiß nicht mehr, ob wir das früher schon einmal getan haben. Lachen ist wie ein Licht im Dunkeln, das der Gemeinschaft mit seinem Flackern ein Wirgefühl vermittelt und „die anderen“ – den Herrscher und seine Anhänger – weniger schrecklich erscheinen lässt.

  • 7. Erschaffen Sie sich Ihr eigenes Land

    Mittlerweile ertappen sich viele bei dem Gedanken „Das ist nicht mehr mein Land“ – in den USA, in Ungarn, Polen, Deutschland, Großbritannien und anderswo. Sie haben das Gefühl stillzustehen, während sich das Territorium unter ihren Füßen bewegt, als wäre das Gesamtkonzept des eigenen Landes über Nacht verändert worden und man selbst bei der Realisierung entbehrlich. Aber nur wenigen ist klar, dass der Satz „Das ist nicht mehr mein Land“, einmal ausgesprochen, nicht nur den Menschen verändert, der ihn äußert, sondern auch das Land selbst. Die Geschichte derer, die ihre Heimat verlassen und in der Fremde zu Fremden werden, wurde oft (vielleicht zu oft) erzählt, doch was mit einem Land geschieht, wenn seine Bürger gehen, darüber spricht keiner. Wenn sich ein Land feindselig gegen seine eigenen Kinder wendet, ist der Preis, den der Einzelne zahlt – egal, ob er geht oder bleibt – , die blutige Lektion, die die Menschheit im Lauf der Jahrhunderte und vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt hat. Der Preis, den das Land zahlt, wenn es verlassen wird, ist dagegen unkalkulierbar.

Cover “Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur”
Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur

Ece Temelkuran
Übersetzt von Michaela Grabinger
Hoffmann und Campe 2019
€ 22,70

Sasha Marianna Salzmann
Sasha Marianna Salzmann
© Marcella Ruiz Cruz
APROPOS GEGENWART

Sasha Marianna Salzmann im Gespräch mit Ece Temelkuran 

25.02.2020, Kasino am Schwarzenbergplatz

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