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perfekt, unschuldig, sexy?

Wie lange muss man kollektive Schuld teilen, bis sie Einzelne ertragen? Mira Stadlers Inszenierung MÄDCHEN WIE DIE spannt den Bogen von Hexenjagd zu Cybermobbing und zeigt ohne zu beschönigen, die immer gleichen Mechanismen von Gruppenzwang und mangelnder Solidarität, die sich durch Social Media fatal beschleunigen. MÄDCHEN WIE DIE kommt am 17. September zur Premiere und richtet sich an ein junges Publikum ab 12 Jahren, hält aber auch für Erwachsene lohnende Blickwinkel bereit: Während Scarletts Nacktfoto im Netz ungeahnte Dynamiken auslöst, bleibt ein Nacktfoto ihres männlichen Kollegen, Russel, folgenlos. Welche Rollenmuster sich dahinter verbergen und warum die traditionelle Erziehung von Mädchen Mobbing begünstigt, darüber sprachen wir mit Regisseurin Mira Stadler und Dramaturgin Claudia Kaufmann-Freßner im Instagram Live Talk. Eine Nachlese.

Pia Zimmermann, Nele Christoph, Aila Franken, Katharina Rose, Ines Maria Winkelhofer
© Matthias Horn
MÄDCHEN WIE DIE richtet sich an ein junges Publikum, hält aber auch viele Denkanstöße für Erwachsene bereit. Worum geht es in deiner Inszenierung? 
 

Mira Stadler: Ja, definitiv hat unser Stück auch richtig viel Stoff für Erwachsene! Es geht um eine Schulklasse, eine Mädchenklasse, in der ein Nacktfoto einer Schulkollegin herumgeschickt wird und darum, wie diese Gruppe von Mädchen, die eigentlich Freundinnen sind, darauf reagiert.

Wie reagieren Sie? beginnt eine Jagd?

Mira Stadler: Naja, eine Jagd... Ich glaube es beginnt ein ganz üblicher Prozess und der hat auch damit zu tun, wie Mädchen noch immer erzogen werden. Als Scarletts Nacktfoto auftaucht, wird es weitergereicht. Das beginnt in der Schule und geht zuhause weiter, im Klassenchat, auf Instagram, auf Snapchat...  Scarletts Version der Geschichte interessiert niemanden, die Gerüchteküche hingegen brodelt.  Unser Stück handelt nicht von Fremden, die im Internet Hasskommentare verfassen und in der Anonymität mobben, sondern es handelt sich um eine Gruppe von Freundinnen, da kommt man eigentlich nicht mehr wirklich raus. 

Warum werden die Mädchen zu Täterinnen? Was hat das damit zu tun wie Mädchen erzogen werden?

Mira Stadler: Es ist natürlich immer noch so, dass leider Mädchen anders aufgezogen werden und andere Erziehungsimpulse kriegen als Jungs. Und diese Impulse sind oft: „Seid nett zueinander!", "Werdet Freundinnen!", " Die Mädels, die in deiner Schule sind, werden Freundinnen für dein ganzes Leben sein, die musst du dir behalten!" damit sagt man auch: "Du musst Beziehungen gut führen können". Eben das alles, was man auch selbst gehört hat als Jugendliche. Wenn dann eine dieser Freundinnen sich wirklich gegen mich stellt und anfängt gemein zu werden, dann ist man auch schon mittendrin. Denn: Wann darf denn ein Mädchen schon gemein sein? Mädchen sind doch nicht gemein! Und so sagt man dann auch zu gemobbten Mädchen: "Ach, das ist doch nicht so schlimm". Ein blaues Auge würde man vielleicht ernster nehmen, aber so tragen Mädchen in der Regel keine Konflikte aus. Sie werden erzogen, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Was ich damit sagen will: Mobbing unter Mädchen ist sehr viel leiser, passiver, aber um nichts minder gemein. Es ist einfach so fies und das ist leider etwas, das man im Erwachsenenalter leider oft reproduziert, weil wir es eben nicht anders kennen. Eine Kultur des offenen Konflikts finden wir in Frauengruppen oder in Mädchengruppen viel seltener. Und genau deswegen ist dieses Stück auch für Erwachsene, auch wenn wir uns inhaltlich auf diese Mobbinggeschichte in der Schule fokussieren.

Claudia Kaufmann-Freßner: Mädchen haben auch heute immer noch immer nett zu sein. Die Softskills von Frauen sollen primär sein: Fürsorge, Empathie, Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse. Wir reden immer von den starken Frauen, wo es auch keine gläserne Decke mehr gibt. Diese gläserne Decke ist da: Sie ist dieses Nett-Sein. Es müssen auch Mädchen und Frauen lernen Konflikte offen auszutragen, dafür auch Vokabular zu finden, keine Angst zu haben dafür an den Rand gestellt zu werden. Damit Frauen dorthin kommen, wo Männer schon längst sind, wird auch Konkurrenz nötig sein! Meistens ist aber so, dass das Mädchen das ehrgeizig ist, die Streberin ist und die Frau, die sich nicht scheut in Konkurrenz zu anderen zu treten, ist die Bitch. Uns Frauen wird dieses Kämpfertum von vornherein abgewöhnt, und solange das passiert, wird es immer eine gläserne Decke geben.

 
Mädchen wie die

Evan Placey
Regie: Mira Stadler 

Tickes & Termine 
 

 

Mira Stadler: Das Thema Konkurrenz in Frauen und Mädelsgruppen ist ein heikles. Nicht nur dass Konkurrenz immer als Bitchfight, Stutenbissigkeit etc. abgeschrieben wird, auch ist das Problem, dass sich oft bei Mädchen und Frauen der Gedanke einstellt: „Es gibt nicht so viel Platz für mich, deswegen muss ich perfekt, unschuldig, sexy sein.“ Mädchen und Frauen sollen sehr viele Sachen erfüllen, die gar nicht in einer Person vereinbar sind.Schon in der Schule sollen Mädchen in ein gewisses Schema passen. Natürlich Jungs auch, aber das ist einfach ein anderes Schema. Obwohl es 2021 ist, wird auf ein Nacktfoto von einem Mädel in der Schule anders reagiert als wie wenn es von einem Boy kommt.

Claudia Kaufmann-Freßner: Ich möchte dazu allen ein Buch empfehlen, das mich sehr begeistert: Es ist von Rachel Simmons, einer amerikanischen Frauenforscherin und hat den Titel „Meine beste Feindin“, das kann ich wirklich nur wärmstens empfehlen! Man begreift bei der Lektüre sehr vieles und beginnt auch sich selbst ganz anders zu sehen und anders zu beobachten, Automatismen zu hinterfragen, die man vorher nicht hinterfragt hat!

Ein User fragt auf Instagram: Wie ist die Besetzung? 

Mira Stadler: Besetzt ist MÄDCHEN WIE DIE mit Studentinnen vom Max Reinhardt Seminar, das hat den Probenprozess besonders spannend gemacht, denn die Schauspielerinnen haben nicht so viel zeitlichen Abstand zu ihrer eigenen Schulzeit. Ich selbst bin Baujahr 1992, dass ich maturiert habe, ist auch schon ein bisschen her. Eine ausschließlich weibliche Besetzung kommt ja leider bis heute nicht so oft vor. Das Thema hat sich nun angeboten zu sagen; wir klammern die Jungs einmal aus.

Das Stück Repräsentiert mädchen, aber es richtet sich nicht nur an Mädchen?

Mira Stadler: Natürlich nicht. Es ist ein Thema, das vor allem Frauen und Mädchen betrifft, das aber in der Gesellschaft ganz generell natürlich auch auf die Männer und Jungs umspringt. Ich kann auch gar nicht sagen, mit diesem Stück repräsentiere ich alle Frauen. Ich habe mit den Schauspielerinnen hier fünf Figuren erschaffen, die für sich sehr menschlich sind, die alle ihre eigenen Probleme und Hintergründe haben. Das heißt, dass die auch in der Schule unter gewissen Zwängen stehen und eben nicht immer perfekt reagieren. Das finde ich immer wichtig, grad wenn man sagt, das ist ein Mädchenstück, das eine Frau inszeniert hat. Wir schauen uns zwar ein geschlechts- oder genderspezifisches Thema an, wir haben aber auch Figuren, die einfach menschlich sind, die in der Schule gemobbt werden, die vielleicht auch zu Täterinnen werden und ihre normalen menschlichen Ausbrüche haben.

Claudia Kaufmann-Freßner: Im Prinzip ist das, was in der Gruppe passiert überall möglich und überallhin übertragbar. Der Autor sagt dazu: „Ich zensiere die Welt für junge Menschen nicht, sie sollen das was sie erleben auch im Theater sehen können.“ Das ist vielleicht auch interessant am Stück, dass er nichts am Verhalten der Figuren beschönigen würde. Dadurch geht es einem besonders unter die Haut.

Im Stück bezieht ihr auch die virtuelle Welt mit ein...

Claudia Kaufmann-Freßner: Mobbing in der Schule gabs immer, das wissen wir auch alle, aber natürlich entwickelt der virtuelle Raum eine Dynamik, wo Mobbing nie ein Ende findet. Gleichzeitig ist der digitale Raum auch ideal um der direkten Konfrontation auszuweichen. Darum passieren dort oft sehr böse Dinge. Es gibt Statistiken, die davon ausgehen, dass zumindest jeder fünfte Jugendliche schon einmal Cyber Mobbing erfahren hat. Vermutlich ist die Dunkelziffer sogar noch größer, weil es ja auch so ein schambehaftetes Thema ist. Obwohl Cybermobbing mittlerweile ein Strafbestand ist, ist es immer noch relativ schwierig vor Gericht damit umzugehen. In Umfragen, mit denen wir uns bei den Recherchen zum Stück beschäftigt haben, gab es auch erstaunlich viele Jugendliche, die die Frage bejaht haben, ob sie bereit wären Täter zu sein. Denn: Wer nicht mitmacht beim Mobben wird ganz schnell selbst Opfer. Die digitalen Technologien beschleunigt auch noch mal all diese üblen Mechanismen von Gruppenzwang, Gruppendynamik, fehlender Loyalität – immer noch die alten Hexenjagdbestandteile.


Auf Instagram schreibt eine Userin: Wie kann man diesen Strukturen entgegenwirken? Habt ihr während eurer Arbeit eine Antwort gefunden? 

Claudia Kaufmann-Freßner: Ja tatsächlich! Wir müssen akzeptieren, dass auch nette Mädchen richtig wütend werden und auch gute hin und wieder ziemlich böse sind.

Ines Maria Winkelhofer, Aila Franken, Katharina Rose, Pia Zimmermann, Nele Christoph
Ines Maria Winkelhofer, Aila Franken, Katharina Rose, Pia Zimmermann, Nele Christoph
© Matthias Horn
MÄDCHEN WIE DIE

Evan Placey
Deutsch von Frank Weigand
Regie: Mira Stadler

Mit: Nele Christoph, Ines Maria Winklhofer, Aila Franken, Katharina Rose, Pia Zimmermann

Premiere am 17. September, Vestibül

Mira Stadler
Mira Stadler
© Matthias Horn
Mira Stadler

wurde 1992 im slowenischen Teil Kärntens geboren. Nach ihrem Studium der Kultur- und Sozialanthropologie studierte sie Schauspielregie unter Martin Kušej und Anna Maria Krassnigg am Max Reinhardt Seminar. MÄDCHEN WIE DIE ist ihre erste Arbeit für junges Publikum.

Claudia Kaufmann-Freßner
Claudia Kaufmann-Freßner
© Martin Juen
Claudia Kaufmann-Freßner

geboren in Wien, ist seit 1988 am Burgtheater und als Künstlerische Generalsekretärin sowie Dramaturgin tätig.

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