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Wie wird man auf die Schnelle ein waschechter Kommunist ?

Fundstück
von Nikolai Erdman

Nikolai Erdman galt in den 1920er Jahren als das literarisches Wunderkind der frühen Sowjetunion. Bereits für sein erstes Stück, Das Mandat, wurde der gerade 25-Jährige gefeiert; eine politische Satire in der Tradition Nikolai Gogols, die pointenreich und gnadenlos die politischen Wirrnisse nach der Revolution aufs Korn nahm. Doch sein Ruhm währte nur kurz. Es dauerte nicht lange, da landete Erdman auf dem Index der neuen kommunistischen Machthaber und sein Stück wurde verboten. Sein zweites großes Werk, die Komödie Der Selbstmörder, erlitt ein noch ärgeres Schicksal: Zu Erdmans Lebzeiten durfte es in der Sowjetunion gar nicht aufgeführt werden. Teile seines Lebens hat Erdman im Exil verbringen müssen. Vermutlich haben die Sowjets mit ihrer Zensur eines der größten Komödienwerke des Zwanzigsten Jahrhunderts verhindert, denn weitere fertiggestellte Bühnenstücke sind von Erdman nicht überliefert. Er war erfolgreich gebrochen.

In dieser Rubrik stellen wir literarische Fundstücke vor – aus der Feder von Schriftsteller*innen, die am Burgtheater aufgeführt werden.

Den Anfang unserer Rubrik FUNDSTÜCKE macht die politische Satire DAS MANDAT, das erste Theaterstück von Nikolai Robertowitsch Erdman (1900-1979). Erdmans zweite große Komödie, DER SELBSTMÖRDER, feiert am 29.10 im Burgtheater Premiere. 

Das Mandat spielt in Moskau in den frühen 1920er Jahren im Haus der Familie Gulátschkin. Sohn Pawel hält nicht viel von der Revolution. Nun soll seine Schwester Warwára an den Sohn des reichen Kaufmanns Smetánitsch verheiratet werden. Smetánitsch durfte nach dem Untergang des Zarenreiches sein Vermögen behalten, braucht im Arbeiter- und Bauernstaat nun aber einen Alibi-Kommunisten in der Familie, um seinen Besitzstand zu sichern. Das kann nur Pawel sein, den er als eine Art kommunistisches Mitgift in die Ehe verlangt. Pawel bleibt nichts anderes übrig, als rasch in die Partei einzutreten ...

Einen Auszug aus DAS MANDAT lesen Sie hier. Einen Teil daraus präsentieren Ihnen Sylvie Rohrer & Bardo Böhlefeld als Video-Lesung.

ERSTER AKT (Erster Auftritt)

Zimmer in der Gulátschkin-Wohnung. PAWEL GULATSCHKIN steht auf einer Trittleiter und hängt Bilder auf. Neben seiner Mutter NADJESHDA PETROWNA GULATSCHKINA liegen noch mehrere gerahmte Bilder auf dem Fußboden. 
 

PAWEL: Jetzt — „Abend in Kopenhagen“. Mamma! 


NADJESHDA: „O Herr, lass mich nicht wanken ...“ 


PAWEL: „Ein Abend in Kopenhagen“ ist kultivierter. 


NADJESHDA: Meinst du? „0 Herr, lass mich nicht wanken“ hätt ich so gern da in der Mitte gehabt. Das hat doch einen viel schöneren Rahmen und einen viel tieferen Sinn als „Ein Abend in Kopenhagen“. 


PAWEL: Andersrum betrachtet, hat der „Abend in Kopenhagen“ auch seinen Sinn ... 


NADJESHDA: (dreht das Bild herum) Ja, verreck doch! (Sie spuckt aus.) Was ist das denn für einer? 


PAWEL: (aufgebracht) Spuck nicht. Wir müssen mit der Zeit gehen.


NADJESHDA: Sag, wen hast du dir da draufgeleimt, Páwel? 


PAWEL: Lies. Er hat‘s signiert. 


NADJESHDA: (liest) Karl Marx. Einen Ausländer. Ich hab‘s geahnt, dass es nichts Russisches ist. — Seit achtzehn Jahren hängen die Bilder so schön beisammen. Was dir einfällt! Kein Gast hat was dagegen gesagt. 


PAWEL: Dein Klassenbewusstsein! Was verstehst du überhaupt unter einem Bild? 


NADJESHDA: Woher soll ich das wissen. Zeitung les’ ich nicht. 


PAWEL: Und trotzdem sagst du mir jetzt, was ein Bild ist! 


NADJESHDA: Vor der neuen Zeit war bei uns ein Postbeamter in der Kost, der hat immer gesagt: „Ein Bild ist der Seelenschrei eines organischen Genusses“, das hat er gesagt. 


PAWEL: Früher vielleicht. Jetzt ist ein Bild eine Propagandawaffe. 


NADJESHDA: Eine Waffe? Geh, Páwel.

 
PAWEL: Jawohl! Wenn zum Beispiel wer von der Regierung zu uns kommt und sieht „O Herr, lass mich nicht wanken“ da hängen, eindeutig, worauf sich das bezieht, und du wirst sofort vorgeladen: „Bürgerin Gulátschkina, was hat denn Ihr Urgroßvater gemacht?“ 


NADJESHDA: Der hat doch nichts gemacht, der hat nur sein Unternehmen betrieben. 


PAWEL: So? Welches? 


NADJESHDA: Die Wäscherei. 


PAWEL: Was? 


NADJESHDA: Die Wäscherei, hab ich gesagt. 


PAWEL: Die Wäscherei! Und wenn ich Sie wegen solcher bourgeoisen Vorurteile vor Gericht stelle?

 
NADJESHDA: Maria und Josef! 


PAWEL: Jetzt begreifst du‘s endlich, „Maria und Josef“ ... 


NADJESHDA: Wie hätt sich denn sonst heut ein ehrlicher Mensch durchbringen können? 


PAWEL: Vernünftig lavieren, lavieren. Mamma — zweifle nicht immer an mir, weil ich das Gymnasium nicht geschafft habe: Die Revolution durchschau ich. 


NADJESHDA: Nein, Páwel, wer weiß, was draus wird ... 


PAWEL: Ich hab Aussichten. 


NADJESHDA: Du hast Aussichten? Was sind denn das für Aussichten, Páwel? 


PAWEL: Als wir die Scheibe von unserem Korridorfenster verklebt haben ... habe ich mir ein winziges Loch hineingeschabt. 


NADJESHDA: So. Gibt es da was zu sehen? 


PAWEL: Wenn es klingelt. Ich schau durch das Loch durch und sehe wer und warum er klingelt. Sagen wir, wenn zum Beispiel der Hauskomiteevorsitzende oder einer vom Polizeirevier ...


NADJESHDA: Mein Gott, nein! 


PAWEL: Gar nichts passiert uns, Mamma. Wir drehen nur schnell das Bild um, und dann bitten wir jeden Besuch höflichst hier herein in unser Speisezimmer. 


NADJESHDA: Und? 


PAWEL: Dann steht der Kommissar da, der steht da, bis er wieder geht. 


NADJESHDA: Warum steht er da, Páwel? 


PAWEL: Weil der Karl Marx seine höchste Instanz ist. 


NADJESHDA: Raffiniert bist du schon, — trotzdem: Dieses Mannsbild versaut uns die ganze Wohnung. 


PAWEL: Reg dich nicht auf. Für einen anständigen Gast können wir auf „Abend in Kopenhagen“ umschwenken. Da kann sogar dein Herr Smetánitsch kommen und denkt, dass wir keine Revolutionäre sind, sondern intelligente Menschen. 


NADJESHDA: Du — der hat‘s ja für heut versprochen! 


PAWEL: Dass er zu uns kommt? 


NADJESHDA: „Also, ich komme und schau mir Ihren Sohn an und wie Sie im Großen und Ganzen so wohnen“, hat er gesagt. 


PAWEL: Später hat dir das nicht einfallen können? Schnell, aufhängen: „O Herr, lass mich nicht wanken ...“. Hilf mir doch die Leiter umstellen. Hat er wirklich gesagt: „Ich komme und schau mir Ihren Herrn Sohn an?“ 


NADJESHDA: Ja, natürlich. 


PAWEL: Dazu zieh ich aber meine neue Hose an? 


NADJESHDA: Moment. Du weißt ja noch gar nicht, dass der Herr Smetánitsch seinen Sohn mit unserer Warwára verheiraten will. 


PAWEL: Mit meiner Schwester? 


NADJESHDA: Ja. 


PAWEL: Sein Sohn soll unsere Warwára ...? 


NADJESHDA: Ja. 


PAWEL: Entschuldige, Mamma, bist du noch ganz gesund oder bist du vielleicht krank? 


NADJESHDA: Gott sei Dank, nein. 


PAWEL: Der weiß ja gar nicht, wie unsere Warwára ausschaut! 


NADJESHDA: Das ist doch gut. 


PAWEL: Dass er das nicht weiß, ja. Von mir aus, ich kann‘s bloß nicht fassen. 


NADJESHDA: Glaub es mir nur. 


PAWEL: Dann sind wir also demnächst mit dem Herrn Smetánitsch verwandt? 


NADJESHDA: So einfach geht‘s nicht. Denk an die Mitgift.


PAWEL: Dann wird nichts draus. Wir sind doch bankrott. 


NADJESHDA: Ums Geld geht‘s dem nicht. 


PAWEL: So? Worum dann? 


NADJESHDA: Dem geht‘s ums Leben. 


PAWEL: Was? 


NADJESHDA: Er verlangt einen Kommunisten als Mitgift. 


PAWEL: Einen Kommunisten? 


NADJESHDA: Also ja. 


PAWEL: Kann man ein Parteimitglied als Mitgift verschachern? 


NADJESHDA: Jeden dahergelaufenen Kommunisten natürlich nicht. Seinen eigenen, sozusagen seinen Hauskommunisten — das kann einem schließlich niemand verbieten. 


PAWEL: Wir sind anständige Menschen. Bei uns gibt‘s keine Kommunisten. 


NADJESHDA: Geh, was kann dir passieren? Ich bet schon für deine Sünden. 


PAWEL: Was? 


NADJESHDA: Ja, du musst in die Partei. 


PAWEL: Ich? In die Partei? 


NADJESHDA: Der Herr Smetánitsch wär sonst sehr enttäuscht ...


Auszug aus Nikolaj R. Erdmann, DAS MANDAT, Deutsch von Ingeborg Gampert Jussenhoven & Fischer, Theater & Medien

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