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"Es ist an Einar Schleef zu erinnern"

Die Theaterwissenschafterin Ulrike Haß zum 20. Todestag von Einar Schleef, der am 21. Juli 2001 in einem Berliner Krankenhaus anonym verstarb. Die Öffentlichkeit erfuhr es erst 10 Tage später.

 

Es ist an Einar Schleef zu erinnern. An einen „Feuerkopf“ (Alexander Kluge), der „wie ein Blitz durch die größten Theaterhäuser fuhr“ (Ronald Pohl) und sich ratlosen Kritikern gegenüber wie ein „lichter Brocken“ (Rainald Goetz) ausnahm. An einen „wie ein Kraftwerk, das Strom erzeugt“ (Elfriede Jelinek), an einen, dessen Auftritt als Nietzsche/Ecce Homo seine ehemals schärfsten Kritiker zu „höchster Bewunderung“ (Peter Iden) hinriss. Jelinek sagte, dass es schwer sei über Schleef zu sprechen, weil er nicht „für sich“, sondern „sich gesprochen und sich dabei immer wieder aufs neue selbst geschaffen“ habe.
 

Schwarze Figur vor weißem Hintergrund
© Andreas Pohlmann
Schleef verdichtete und vergrößerte Den Maßstab, mit dem er die Realitäten begriff und aus ihren alltäglichen Verpackungen trieb, bis sie in ihrer Unerbittlichkeit kenntlich wurden.

Schleefs Inszenierungen feierten das Sprechen. Die Physis des Sprechenden, von der Schleef, dem das Sprechen nicht einfach zuhanden war, so viel wusste. Als Stotterer wusste er die Sprachhemmung im Formkorsett des Rhythmus zu bannen. Aber er bannte sie nicht wie ein Zuchtmeister, der eine Hemmung einfach nur beherrschen will, sondern er bannte sie mit einem belebenden Effekt für die Sprache. Gegen den Widerstand gewann er dem Sprechen eine ungewöhnliche Frische hinzu, eine Plötzlichkeit, mit der es sich ereignete und augenblicklich das Papier vergessen machte, auf dem Sprache, die jetzt gesprochen wird, vielleicht einmal geschrieben wurde. Schleef hat dem Übergang von der mündlichen „Muttersprache“, wie er sie nannte, zur schriftlichen, in der Schule vermittelten „Vatersprache“ große Aufmerksamkeit gewidmet. Er hat das Nebeneinander beider Spracherfahrungen als einen lebenslangen Kampf wahrgenommen und künstlerisch zum Beweggrund eines Ausdrucks gemacht, der nicht auf etwas anderes verweist oder sprachlich etwas anderes bedeutet. Vielmehr hat Schleef das Sprechen als ein Ereignis begriffen, in dem eine Spracherfahrung sich von einer anderen in einem körperlichen Moment losreißen muss, um öffentlich zu werden. Sprechen als Nahtstelle von Körper und Sprache. 

Porträt von Einar Schleef
Einar Schleef
© Ingo Wagner dpa picturedesk

Der hohe Begriff, den Schleef von der Bühne hatte, geht einher mit seinem Anspruch an das Theater als Schauplatz von Wahrheit. Wider jene höhere Wahrheit, die vorgibt, keinen Plural zu kennen, war es Schleef darum zu tun, rückhaltlos anzuerkennen, was der Fall ist. In seinen Texten zählte er sich zu den Autoren, „die unzensiert aufzeichnen, was sie umgibt“ (Dankesrede für den Bremer Literaturpreis 1998) und vom Theater wünschte er, es möge ebenfalls Umgebungsbewusstsein entwickeln. Mit seinem Wahrheitsanspruch zielte Schleef auf eine Gegenwart im Theater, die der Gegenwart vor der Kassenhalle des Theaters standhalten müsse. Schleef zeichnete die Realitäten nicht nach und verbot sich jeden aktualisierenden Verweis. Stattdessen verdichtete und vergrößerte er den Maßstab, mit dem er die Realitäten begriff und aus ihren alltäglichen Verpackungen trieb, bis sie in ihrer Unerbittlichkeit kenntlich wurden. Mütter, die Leben gebären und im Namen ihrer Söhne zu Kriegstreiberinnen werden (Mütter, 1986). Lenins „Es muss eine neue Art Mensch geschaffen werden“, x-mal wiederholt, bis der Satz wahr zu werden begann (Verratenes Volk, 2000). „Theater muss wehtun“, sagte Schleef. Das heißt, es musste den Nerv falscher Verbindlichkeiten treffen. Schleef reklamierte die Bühne für das Wahrsprechen im Sinn der altgriechischen parrhesia. Also für die Praxis einer freimütigen, offenen, vor allem aber sich selbst gegenüber schonungslosen Rede, wie sie Schleef exzessiv übte.
 

An Schleef zu erinnern, gleicht der Verbeugung vor einer Vergangenheit, die kein Privileg der Theatergeschichte ist und die ihren Gesetzen der Abfolge nur unwesentlich zugehört.

 

Einar Schleef, der am 17. Januar 1944 in Sangerhausen (Thüringen) geboren wurde, studierte Malerei und Bühnenbild bei Heinrich Kilger und Karl von Appen und übernahm ab 1972 erste Bühnenbild- und Regieaufgaben am Berliner Ensemble. Seine und B.K. Tragelehns Inszenierung von Strindbergs Fräulein Julie löste 1975 einen kulturpolitischen Skandal aus. In der zentralen Liebesszene kaperten sechzig Jugendliche von draußen die leer geräumte Bühne und tanzten zur Rockmusik einer bekannten DDR-Band. Dann waren sie wieder weg, und Julie war, nach erfahrener Schändung, zum Selbstmord entschlossen. Julie, von Jutta Hoffmann gespielt, verließt die Bühne über die Sitzreihen im Parkett und die Köpfe der Zuschauer hinweg balancierend. Nach draußen geht es durch die Haustür des Theaters. „Julies Verlassen der Bühne, die nicht in den Tod, sondern in eine Ungewißheit abgeht, ist unbewußt meine Republikflucht“, schreibt Schleef in seinem Buch "Droge Faust Parsifal". Theater wird als Architektur begriffen, situiert in einer realen städtischen Umgebung, in einem konkreten Land. Die Darstellung arbeitet mit Lebensentscheidungen, mit eigenen und mit denen anderer, unbewusst, bewusst.


Schleefs Versuche, im Westen erneut im Theater zu arbeiten, schlugen fehl. Proben in Wien, in Düsseldorf wurden abgebrochen. Zehn Jahre arbeitete Schleef vor allem als Autor. „Fast schien er dem Theater verloren“, schreibt Günther Rühle, der ehemalige FAZ-Feuilletonchef, der als neuberufener Intendant des Schauspiel Frankfurt 1985 nicht zögerte, den seinerzeit als Theatermann völlig unbekannten Schleef als Hausregisseur zu verpflichten. Ein beiderseitiges „Wage- und Willensstück“ (Rühle), das in fünf Jahren zu sechs großen Inszenierungen führte, in denen Schleef sein Theater und dessen Formenkanon (nachzulesen in Droge Faust Parsifal) entwerfen, erproben und behaupten konnte.


An Schleef zu erinnern, gleicht der Verbeugung vor einer Vergangenheit, die kein Privileg der Theatergeschichte ist und die ihren Gesetzen der Abfolge nur unwesentlich zugehört. Schleefs Inszenierungen (die er nach Frankfurt bis zu seinem frühen Tod 2001 an den größten Theaterhäusern in Berlin, Düsseldorf und Wien realisierte) beweisen es selbst: die Zeit des Theaters ist Koexistenz von Ebenen, nicht Abfolge von Epochen. Diese Ebenen sind, wie in der Geologie, übereinandergeschichtet. Unversehens können auch sehr alte, abgelegene Ebenen in unserer Gegenwart zutage treten, sobald wir einen Kontakt mit ihnen eingehen. So verfährt Schleef im Detail, wenn er in seinem Formenkanon festhält: „Romeo – Ophelia, ihr Lebensanspruch sind wir, d.h. wir leben und sind hoffentlich erst nach unserem Tod Historie“. So verfährt er in der Montage seiner großen Theaterabende, wenn er Jelineks Sportstück mit Hofmannsthals Elektra, die auf Sophokles zurückgreift, mit Kleists Penthesilea und mit Chorälen von Bach in einer Inszenierung vereinigt. So verfährt Schleef im Ganzen, wenn er seine Theatersprache ausgehend von der griechischen Tragödie definiert. Er begreift sie, gleichsam architektonisch, als Montage zweier Figurentypen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Chor und Protagonist, die eine Figur aus ehemals geheiligten Landschaften kommend, die andere verknüpft mit den Gründungsenergien der neuen griechischen Stadtstaaten. In wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, bilden sie die antike Konstellation, mit der das europäische Theater anhebt. Schleef verfolgt sie durch die Theatergeschichte hindurch.


Man kann es auch mit einem Buchtitel von Jean-Luc Nancy sagen: Singular plural sein. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken, nicht zu leben, nicht zu haben, und die griechische Tragödie hält für diese doppelte Anlage die Figurentypen vor. Schleef spürt ihre Konstellation auch noch in den Spätformen einer Dramatik auf, die das Nadelöhr der modernen Individualisierung passiert hat. Immer gibt es einen Pol derer, die die „Drecksarbeit machen“ (Schleef): Abhängige, Kinder, Söhne, Töchter, Diener, Knechte, Putzfrauen, Kolonnenmenschen, für die Schleef die große Chor-Form vorsieht. Jeweils spezifisch wird der Pol der Einzelfigur definiert. Sie erscheint bei Brecht (und diesen beim Wort nehmend) als Herr auf Puntila. Es gibt sie in Jelineks Sportstück als Mutter auf Kothurnen, die ihren Sohn gnadenlos auf die Überholspur des Sports schickt. Im Faust ist sie ein aasiger Mephisto, Regisseur und Theaterdirektor in einem, der die beiden Halbchöre Faust und Gretchen anführt, und in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang tritt sie als Gesundheitsfanatiker auf, der in einem schlesischen Witzdorf die „Erbgesundheit“ hochhält. Überall taugt die antike Konstellation zur großen Form, die dem Theater der Individualisierung unter Maßgabe der Zentralperspektive abhandengekommen ist, die ihm aber, die Spartentrennung bestreitend, auch wieder beigebracht werden kann. Die Stücke erfordern es, die Figuren sehnen sich danach. Bereichert durch oratorische Formen, Choräle, Chöre, Gesänge, Arien, rhythmische Exzesse und musikalische Relationen untereinander gewinnen sie ein abstraktes Pathos, das dem Umfang der Kämpfe, um die es jeweils geht, einzig angemessen erscheint. 
Im März 1994 hielt Schleef auf Einladung des Goethe-Instituts in Madrid einen Vortrag, der mit den Worten einsetzte: „Vor vielen Jahren gab das Sprechtheater der Bundesrepublik Deutschland seinen Geist auf…“ Gemeint sind die späten 1970er Jahre, ein Zeitraum, den Philipp Sarasin unlängst mit dem Einsetzen des neoliberalen Wegs zur Ich-AG identifizierte, welcher unsere Gegenwart anhaltend ambivalent prägt. In eben dieser Zeit sei auch etwas mit dem Sprechtheater passiert, befand Schleef, es sei von Konzeptionen, Regiehandschriften und szenischen Einfällen förmlich erstickt worden. Daher heißt es in Schleefs Entwurf für sein Theater: „Formenkanon contra Konzeption“. Und an die Schauspieler gewandt: „Du bist keine Beilage, du bist das Hauptgericht.“ Kunst ist keine Zutat, sondern Mitbedingung von Dasein.
 

Ulrike Haß

Ulrike Haß lehrte bis Herbst 2016 Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, begründete das Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet (2001-2011), initiierte den Masterstudiengang Szenische Forschung (etabliert 2012) und hatte Gastprofessuren u.a. in Paris und Frankfurt/M. inne. Schwerpunkte: Raum/Bild/Theater (Das Drama des Sehens), Topologie des Chores (Kraftfeld Chor), aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit sowie Gegenwartsdramatik und -theater, besonders zu Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Einar Schleef. 

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