Dieser Bereich ist nicht für Screenreader und Tastatur-Bedienung optimiert. Der Bereich stellt einen Ausschnitt des Spielplans dar. Der Spielplan kann über das nächste Element oder über die Navigation erreicht werden.

Probennotizen zu Dies irae - Tag des Zorns

Alexander Kerlin

Eine Notizensammlung aus dem Probenprozess zu  "Dies irae – Tag des Zorns"

Was ist das für eine Obsession der Menschen, sich den kommenden Untergang der Welt immer und immer wieder neu zu erzählen?

Sujetfoto Dies Irae
© Stefanie Moshammer
T-6 / Countdown zur Apokalypse


Die Tora, das Neue Testament, der Koran sind voll davon, und auch die alten Griechen kannten unerhörte Seherfiguren, die eine bevorstehende Auslöschung predigten (wenn auch nicht den Untergang der ganzen Welt). Ist der Gedanke, all das hier um uns herum sei schon immer da gewesen und werde auch immer so weiter existieren, vielleicht noch viel abscheulicher als die Bedrohung durch den doomsday? Ist die Idee vom Sein ohne Anfang und Ende nicht noch viel monströser, weil unmöglich vorstellbar? Entsteht Freiheit nicht erst durch irgendeine Form äußerer Begrenzung?

 

PURPLE RAIN von Prince in der Maxi-Version hat ein Nachspiel ohne Ende: Der finale, erlösende Akkord steht immer kurz bevor, aber er kommt nicht. Zehn Minuten lang. Vielleicht jetzt? Ja, ja … Nein, doch nicht. Dann der erneute Spannungsaufbau, das erneute Versprechen auf das Ende, sein erneuter Aufschub. Beim Hören dieses Songs entstand die erste Idee zu diesem Stück.

T-10, Countdown zur Apokalypse
Prince - Purple Rain (Official Video)
© Prince - Purple Rain (Official Video)
  • Ahnst du, was vorgeht in jenem Raume, den wir vielleicht eines Tages durchstürzen werden und der sich zwischen der Erkenntnis des Untergangs und dem Untergange erstreckt?


    Ernst Jünger, Der Graben

  • Geboren sein über dem offenen Grab, das Leben ist nur der Fall hinein. So ungefähr sagt es Beckett. „Das Leben ist lang und schön“, sagt Emmanuelle Riva als Anne in Michael Hanekes Amour, wenn ich mich recht erinnere.

  • Todesangst und Todessehnsucht, vereint im selben Körper. Die Versuchungen des Todes überkommen dich im Alltag. Das Steuer bei 160 km/h herumreisen? Nur eine kleine Bewegung. Oder: Bloß ein Sprung über das Geländer, was würde das schon bedeuten, wie einfach wäre das getan? Der Horror vor der Leichtigkeit, mit der das Vorzimmer zum Tod geöffnet werden kann. Wieviel Disziplin die Menschen haben, über die langen Jahrzehnte ihres Lebens diesen Versuchungen nicht und wieder nicht und wieder nicht nachzugeben.
  • Die Scheibe der Sonne klettert über die Hügel und taucht das Dorf in ein glühendes Licht, das die Häuser und Menschen scharf konturiert vor dem Hintergrund des Morgenhimmels hervortreten lässt. Der Faltenwurf ihrer einfachen Kleider, die von den Sorgen und Mühen gefurchten Gesichter, ihre nach oben gereckten Hände mit den schwarzrandigen Nägeln — wie hineingemeißelt in die Schöpfung mit einem scharfen Willen. Sie stehen auf ihren Dächern und im Kirchhof, die Dorfgemeinschaft vom Bürgermeister bis zur Magd, ihre Gesichter von Sonnenlicht und innerer Erwartung wundersam erhellt, den Blick erhoben in den hohen, wolkenlosen Himmel. Aber nichts Nennenswertes geschieht. Nur ein Schwarm Schwalben zieht in großer Höhe vorüber. Die Vorhersagen waren falsch. Das berühmte Datum, es bedeutete nichts. Gar nichts. Eine halbe Stunde später sind die Bauern zurück auf ihren Äckern.
  • Wir sind Zeichenleser.

    Auch die Gottlosesten unter uns. Wir müssen nicht nahe am Mythos wohnen, um aus diesem oder jenem Umstand die Zukunft herauslesen oder einen dunklen Flecken im (inneren) Universum ausleuchten zu wollen. Wir sind vor der Zukunft blind, wie vor dem Tode. Allzu rasch kapituliert die Rationalität angesichts der nicht gelösten Frage, wer als nächstes dran ist. Wer fängt den Brautstrauß? Liebe Trauergemeinde, beten wir für denjenigen unter uns, der als nächstes stirbt. Die Magie entsteht zuverlässig dort, wo das Ende nicht absehbar ist, da hilft auch kein Ingenieurstudium. Dreimal gespuckt, toi toi toi!

  • Kassandra,

     

    geraubt aus den Flammen ihrer untergehenden Heimatstadt Troja, sah — kaum hat sie das Land ihrer Peiniger und Entführer betreten — ihren eigenen Tod voraus, niedergemetzelt durch das Messer Klytaimnestras. Der Gott Apollon hatte ihr die Sehergabe geschenkt. Aber als sie sich anschließend weigerte, mit ihm das Bett zu teilen, bestrafte er sie, so dass niemand je ihren Prophezeiungen würde Glauben schenken. Einmal mehr klagt sie nun also über das Kommende, das diesmal auch ihr eigenes Leben angeht, einmal mehr ohne die Hoffnung, je erhört zu werden. Wie nutzlos ihre Gabe ist. Nur ein Wimpernschlag aus Zeit und eine Wand trennen sie vom Moment und den Koordinaten ihres eigenen Endes. Was heißt das, den eigenen Tod unmittelbar vor seiner Ankunft zu durchleben, in einer Vision, einer Vorabversion? Ist das die ultimative Hölle? Gefangen wie Sisyphos in einer Endlosschleife, vor dem inneren Auge ein GIF des in den eigenen Körper eindringenden Messers?

     

  • This is the end, beautiful friend. This is the end my only friend, the end.


    The Doors

  • Stürzen und Aufsteigen, Fallen und Schweben. Die zwei Bewegungen der Vertikale zwischen Himmel und Hölle, Vektor zwischen Gut und Böse, Fluchtlinie und Kontinuum des Kampfes zwischen den Engeln und den Dämonen. Schwerkraft und Fliehkraft. Lila Regen, der Turmbau zu Babel, das Ballett der Schwerelosigkeit. 

  • Eros und Thanatos sah Sigmund Freud als Antagonisten, die in unseren Körpern, den Muskeln, den Zellen an unterschiedlichen Enden des Seils ziehen. Der Todestrieb ist der Grundtrieb schlechthin, er strebt „rückwärts“ hin zu einem unbelebten Zustand, er will Ruhe und ersehnt den Abbau aller inneren
    Spannungen, Unterschiede und Komplexitäten (Freud sagt auch Nirwanaprinzip). Die Lebenstriebe (Eros, Libido) hingegen streben danach, die Todestriebe mit Hilfe der Muskeln umzurichten, produktiv zu machen, Hierarchien und Differenzen auszubilden. Die Lebenstriebe sind der Wille zur Selbsterhaltung, zur Macht und zur Vereinigung. Wir wollen, was wir nicht wollen; und wir wollen nicht, was wir wollen: Das Ende, den Anfang.
  • Untergangserzählungen erzeugen Gemeinschaft. Sie kollektivieren und kanalisieren den Horror des einzelnen Menschen vor der undurchdringlichen Dunkelheit, die das Leben an seinem Eingang und an seinem Ausgang umgibt. Lieber kollektiv in den Tod gehen, damit das andere Leben, das Leben nach dem Leben, befreit von Schmerz und Einsamkeit, endlich anbrechen kann — als weiter diese fürchterliche Fremdheit und Isolation zu erleben, dieses Alleinsein vor der Sterblichkeit. 

    Charles Manson, Heaven’s Gate, …

T-9/ Countdown zur Apokalypse

„I don’t know if you guys know about him, but his name is Sebastian Kurz – and oddly enough, this man won the elections in Austria on Rosh Hashanah, okay?“ Chelsi Bedell, amerikanische Verschwörungstheoretikerin mit 26.000 Followern auf Youtube, die vermutet, Sebastian Kurz (Sebastian CURSE, wie sie es ausspricht) sei möglicherweise der Anti-Christ.

T-7 / Countdown zur Apokalypse
Zurück nach oben