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Editorial #4

von Sebastian Huber

von Sebastian Huber

 

Warum ausgerechnet ein Theatermagazin zum Thema Natur? Natur und Theater sind seit jeher unvereinbare Gegensätze. Was daran liegt, dass es das Theater gibt und die Natur nicht. Das wiederum mag damit zusammenhängen, dass das Theater ewig ist (nicht in seiner jetzigen Form), und die Natur nicht (nicht in ihrer jetzigen Form und in keiner anderen).

In einem bestimmten historischen Moment hat sich das Theater in Innenräume zurückgezogen und sich von erneuerbaren, aber unzuverlässigen Beleuchtungskörpern unabhängig gemacht, dieser Moment ist von Shakespeare überliefert: Wenn die Handwerker im Sommernachtstraum beschließen, nicht den natürlichen Mondschein durch das Fenster des Palastes auf die Bühne fallen zu lassen, wo sie die Tragödie von Pyramus und Thisbe aufführen, sondern ihn durch eine Laterne zu ersetzen, die einer der Schauspieler trägt, ist der epochale Schritt vollzogen.

Die Voraussetzungen dafür sind entwickelte Technik und entwickelte Wahrnehmung, also eine Laterne und die Bereitschaft des Publikums, diese als Zeichen für ein  Naturphänomen aufzufassen. Und mehr als das, nämlich die Möglichkeit, das Naturphänomen als Zeichen für etwas anderes zu verstehen: Denn ihr wisst, Pyramus und Thisbe kommen bei Mondschein zusammen, und zwar nicht, weil der Mond jede Nacht schiene (das tut er ja eben nicht), sondern weil der Dichter des Sommernachtstraums das so will. Im Übrigen scheitert die Theatervorstellung der Handwerker genau an diesem zweiten Punkt, am vorläufig noch nicht zureichend ausgebildeten Abstraktionsvermögen ihres adligen Publikums.

Ab hier werden die Dinge verwickelter. Man rufe sich nur das Gedicht Sommernachtstraum von Karl Kraus anlässlich der Inszenierung des Stücks durch Max Reinhardt in Erinnerung, der ein enormes Maß an Technik eingesetzt und einen ganzen Wald auf die Bühne gestellt hatte, wohl um die Erkenntnisse der Handwerker über das Theater zu widerrufen:

Ein wilder Zauber wob durch die Nacht:/das Unkraut wurde lebendig gemacht./Man vergaß, daß man im Theater saß:/bis vorn an die Rampe wuchs echtes Gras./Und nichts war von Pappe bis auf die Leute.

Offensichtlich hatte Kraus zu viel künstliche Natur gesehen und zu wenig Theater erlebt. Von heute aus betrachtet, wirkt diese Darstellung von Natur durch Natur fast naiv, wenn man zum Beispiel den fast zeitgleich entstandenen Kirschgarten von Anton Tschechow dagegen hält. Das Blühen der Kirschbäume, das in der Regieanweisung zum ersten Akt erwähnt wird, ist nicht zu sehen, denn die Fensterläden des Zimmers, in dem gespielt wird, sind geschlossen. Der zweite Akt spielt im Freien unter Telegraphenmasten; besonders eindringlich aber ist die Präsenz der Bäume im vierten Akt – als Geräusch ihres Abholzens, das die Szenen fortwährend grundiert; die Bäume des Kirschgartens waren immer schon Nutzpflanzen. Jetzt tragen sie nicht mehr wie früher, sind also ökonomisch überflüssig und könnten nur noch als Telegraphenmasten zur mechanischen Datenübertragung oder eben durch ihr Verschwinden von Nutzen sein, um ein bebaubares Grundstück freizugeben. Titelgebend, nie zu sehen, immer präsent, stehen und fallen sie für eine Überfülle an Bedeutung, für den Abschied von einer sozialen und politischen Ordnung, ja einer ganzen Welt. Wenn man sie sähe, würden sie sich wahrscheinlich biegen unter den Lasten.

In schroffem Gegensatz dazu steht der vielleicht berühmteste Baum der Theatergeschichte ganz alleine auf der weiten Bühne. Unter ihm warten Wladimir und Estragon auf Godot:

Wladimir: Den Baum, hab ich gesagt, guck ihn dir an!

Estragon schaut den Baum an.

Estragon: Stand er gestern nicht da?

Wladimir: Na klar! Erinnerst du dich nicht daran? Um ein Haar hätten wir uns an ihm aufgehängt. (...)

Estragon: Hör auf mit deinen Landschaften. Sag mir lieber, wie es drunter aussieht.

Dieses Begehren, dass aus dem Baum noch einmal ein sinnvolles Zeichen werden könnte, dass die Landschaft ein sinnvolles Darunter oder überwölbendes Darüber haben könnte, erfüllt sich in Becketts Stück genauso wenig wie Godot am Ende eintrifft. Wird das Verschwinden des Gartens bei Tschechow (von einem Teil der Figuren) noch als persönlicher Verlust wahrgenommen, so stellt sich bei Becketts Baum eine ganz andere Frage: War der gestern schon da? Antwort: Ja, in der Erinnerung einer der Figuren. Fazit: Das Theater gibt es, die Natur nicht.

Am Ende aber steht die Erkenntnis, dass dem Theater seine ganze Ewigkeit nichts hilft, wenn die Erde – oder sagen wir dieses eine Mal doch: die Natur – endgültig dem Profit geopfert und abgestorben sein wird. Denn die Ewigkeit des Theaters besteht in der täglich erneuerten Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen menschlichen Lebens und hat also im Fortbestand solcher, sich ständig verändernden Grundbedingungen seine Voraussetzung. Es ist ein Teil von ALLEM, wie auch die Natur ein Teil von ALLEM ist. Und in aller Bescheidenheit: Das Theater wird am Ende nicht der größte Verlust gewesen sein, wenn diese Grundbedingungen endgültig zerstört sind.

Daher stellt sich die Frage, wie das Theater auf die zunehmende Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen reagieren sollte/müsste/könnte, zuallererst nicht als eine Frage des Theaters, sondern als Frage nach dem Zusammenleben der Menschen und der verschiedenen Spezies. Vielleicht könnte die These, die Fahin Amir in diesem Heft äußert, einen Hinweis geben:

Natur ist offensichtlich nicht nur passiver Gegenstand politischer Einflussnahme, sondern auch widerspenstige und schwer fixierbare Akteurin des Politischen.

Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

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