DU BIST NICHT ALLEIN.
Herzlich willkommen.
Seien Sie unser Gast! Und in aller Freundschaft: Lassen Sie sich bei uns im Theater heimsuchen.

Das Prinzip der Gastfreundschaft ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie ist ein Akt der Großzügigkeit und hat von jeher versucht, die Unterscheidung in gute und schlechte Gesellschaft nicht treffen zu müssen: Gastfreundschaft ist universell und unbedingt, unabhängig davon, wer von seinem „Besuchsrecht“ gerade Gebrauch macht, denn „ursprünglich hat niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht, als der andere.“ (Immanuel Kant).
In Zeiten des Krieges auf europäischem Boden und angesichts Millionen Vertriebener klingt das wie eine Erinnerung daran, dass Menschen überhaupt nur in Bezug auf andere Menschen existieren. Sie sind unendlich miteinander verwoben und ineinander verschränkt, sprachlich verhakt; teilen Gefühle, Tun und Denken. Ihre Existenzform ist der Dialog. Unmöglich endgültig zu ermitteln, wo DU aufhörst und ICH anfange. Diese Verwobenheit endet jedoch nicht an der Grenze des Lebens. Die Toten, die Noch-nicht-Lebenden und die Fiktiven sind unter uns. Manchmal sogar buchstäblich, in einem riesigen Hohlraum unter den Häusern, wie in Raphaela Edelbauers DAS FLÜSSIGE LAND, von wo aus sie die Menschen als Gespenster heimsuchen – ungefragt und plötzlich –, sie anhauchen, ihre Geschichten soufflieren und sagen: Da sind wir wieder, wir sind zurück; und wir haben euch etwas mitgebracht. Und die Menschen? Sind davon existenziell verwirrt – wie Dostojewskijs Stawrogin, der in Bezug auf den Geist, den er sieht, verzweifelt ausruft: „Ich weiß auch nicht, was wirklich ist, ich oder er.“ (DÄMONEN)
Geister. In Zeiten der Krise sind sie unruhig. Sie wissen mehr als wir, sie haben oft Einblick in verborgene Zusammenhänge. Wo sie erscheinen, ist die Ordnung zwischen Diesseits und Jenseits erschüttert. Ihr Auftritt ist ein Hinweis auf eine Misere von größerer Dimension. Es herrscht derzeit ein gesteigertes Kommen und Gehen der Geister, auf den Bühnen, im öffentlichen Leben, in den Nachrichten. Auftritt, Abtritt. Déjà vu. Das haben wir doch schon einmal gesehen. Aber kommen sehen haben wir es nicht. Es sucht uns heim: gespenstische Bilder, wie aus den dunkelsten Kapiteln des 20. Jahrhunderts, mit dem wir doch eigentlich abgeschlossen hatten. Gespenster sind immer Wiedergänger. Man kann ihr Kommen und Gehen nicht kontrollieren, weil ihr Erscheinen mit der Wiederkehr beginnt.
Du bist nicht allein. Und auch die Gespenster selbst sind immer in Gesellschaft. Von dort, wo sie herkommen, bringen sie ihre Verwandtschaft mit, Bewohner*innen aus dem Zwischenreich jenseits der Gegenüberstellung von Präsenz und Nicht-Präsenz, Leben und Nicht-Leben, Realität und Fiktion – all die Dämonen und Engel, die vielen bösen und guten Geister, Feen und Elfen, die zusammen mit den Gespenstern (nicht) existieren. Leere Hüllen, bewohnt von geheimnisvollen Präsenzen, die unsere Handlungen anschieben, die uns besetzen, die sich nicht wegsperren lassen. In Peter Handkes neuem Stück ZWIEGESPRÄCH, das unter anderem von der Anrufung der Ahnen handelt, heißt es: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“
Haben all diese Geister überhaupt ein Besuchsrecht bei den Menschen? Ehrlich gesagt, fragen sie selten, bevor sie erscheinen. Eher brechen sie bei uns ein und warnen uns: „Ein schiefes Bauwerk werden wir geraderücken, eine große Lüge fegen wir hinweg.“ (Tony Kushner, ENGEL IN AMERIKA) Wären wir nicht gut beraten, ihnen Gastfreundschaft zu gewähren? Muss die Liebe zum Fremden so weit gehen, bis über die Grenzen des Lebens hinaus? Und wo bringen wir die ganzen Geister unter – zumal wir wissen: „Die Berührung mit einem Engel ist lebensgefährlich“ (Marieluise Fleißer, INGOLSTADT)? Im Theater? Ist die Bühne nicht genau dafür gemacht, für diese Geisterbeschwörung, für die „Existenzform Dialog“ zwischen den Zeitaltern? Irgendwo müssen die Geister ja unterkommen, bevor sie uns da draußen weiter heimsuchen.