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Nachgefragt bei: Patrick Steinwidder


Regisseur Patrick Steinwidder zeichnet in der Spielzeit 2019/20 für die szenische Einrichtung von Drago Jančars Roman "Die Nacht, als ich sie sah" (Folio Verlag) verantwortlich. Wie kam er zum Buch? Warum lohnt sich die Auseinandersetzung damit? Wir haben nachgefragt.

Wie war Ihre erste Begegnung mit dem Buch, Mit dem Autor?

Ich muss beschämt zugeben: Ich kannte Drago Jančar vorher überhaupt nicht. Umso glücklicher bin ich nun, dass ich dank Martin Kušejs Vorschlag auf Jančars Bücher gestoßen bin. Was für eine Entdeckung! "Die Nacht, als ich sie sah" geht wirklich ganz tief rein, und ich bin sehr stolz, dass wir diesen starken und zugleich poetischen Text im Akademietheater mit dieser erlesenen Besetzung einem breiteren Publikum in diesem Land bekannt machen.

Jančar setzt das Schicksal des in einer Januarnacht 1944 bei Ljubljana von den kommunistischen Partisanen «liquidierten» Industriellenpaares Leo und Veronika Zarnik aus der Perspektive von fünf mit ihnen eng vertrauten Personen zusammen. Dem Roman liegt eine Wahre begebenheit zugrunde, Die Leichen des Ehepaars wurden erst 2015 gefunden, das Thema war aber rasch wieder aus den Medien verschwunden. Auch über Drago Jančars Buch finden sich vergleichsweise wenig Rezensionen oder gar Essays, die sich anhand seine Romans mit der Geschichte besonders vielschichtig auseinander setzen würden. Warum meinen Sie, lohnt es sich, den Roman heute, knapp 10 jahre nach Erscheinen wieder in den Blick zu nehmen?

Ich glaube, es wäre ein Fehler, aufgrund von relativ wenigen Internet-Treffern die Bedeutung eines Buchs oder von Literatur allgemein zu bewerten. Das Schicksal der Figuren zeigt, wie wichtig Worte sind, und zwar die richtigen, und deren Verwendung zum richtigen oder falschen Zeitpunkt. Die eine "Geschichte", die erzählt wird, gibt es nicht. Es sind fünf Blickwinkel auf eine ungewöhnliche Frau; eine Frau, die sich in kein Rollenschema pressen lässt, und mitten im Zweiten Weltkrieg von ihrer Burg bei Ljubljana verschwindet – auch das ist bereits eine Interpretation der "Geschichte", die einer lokalen Legende geschuldet ist und sich nach Erscheinen des Romans als Historie erwiesen hat, aus der Jančar jedoch eine Spurensuche mit literarischen Mitteln gemacht hat. Aber diese Kurzbeschreibung würde dem Buch keineswegs gerecht, es ist viel mehr als das, gerade auch in seiner beeindruckenden Ökonomie. Es geht auch um Widersprüche, Fehleinschätzungen, Missverständnisse und Erinnerungsfetzen, also dass jeder Erzählstimme auch grundsätzlich zu misstrauen ist. 
Das ist freilich kein neuer Hut, dass niemand die Wahrheit gepachtet hat oder Erinnerungen trügerisch sind. Es geht aber meines Erachtens in der Kunst auch nicht so sehr um das Was, sondern viel mehr um das Wie. Und das ist wirklich beeindruckend, WIE diese Geschichte erzählt wird. Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten.

Gibt es Momente in der szenischen Lesung, die sie ganz besonders berühren?

Berühren hat viele Synonyme: anfassen, angreifen, packen – insofern, ja. Der Text packt mich, er greift mich auf intellektueller und emotionaler Ebene an, fordert mich in allen Momenten heraus, belohnt mich dann aber als Zuhörer immer wieder. Man kann ihn vermutlich auch wie einen poetischen Krimi verstehen.

Kennen Sie LJubljana oder SloWEnien? Wie empfinden Sie diese Stadt, dieseS Land? Wie bereist man das Land, wenn man sich ein wenig mit seiner Geschichte auseinandergesetzt hat? Was sieht man – anders?

Ich würde nie so vermessen sein, mich als Slowenien-Connaisseur zu bezeichnen, und es wäre auch vollkommen irreführend, Jančars Roman als eine rein slowenische Geschichte oder Befindlichkeit einzugrenzen. Natürlich hat der Autor mit einer gewissen traurigen Ironie auch ein politisches Buch geschrieben, die sich uns aber nur auf subtile Weise durch seine Figurenzeichnung oder die musikalischen Anspielungen offenbart. Diese Ebenen kann man mitlesen, wenn man will, muss man aber nicht, genauso wenig wie man Sloweniens Schönheiten hinterfragen muss. Denn im Vordergrund spricht das Buch zu uns auf viel universellerer menschlicher Ebene und verliert auch in der übrigens vorzüglichen Übersetzung nichts an seiner sprachlichen Brillanz. Kein Satz, kein Wort ist zu viel, ein Gedanke gebiert den nächsten... und genau das eignet das Buch auch so gut für eine Szenische Lesung wie die unsere, weil die Schauspieler*innen diesen durchaus dramatischen "Stream of Consciousness" in unser Kopfkino projizieren, hineinatmen – und das Publikum sich mit diesem Strom von Bildern mitreißen lassen kann. Also eine sinnliche Erfahrung rein durch Worte, wenn man so will. 

Grad Strmol
Cover. Die Nacht als ich sie sah. Von Drago Jancar, Folio Verlag
Die Nacht, als ich sie sah

Szenische Lesung 

REGIE: PATRICK STEINWIDDER 
MIT: BARBARA PETRITSCH KATHARINA PICHLER ROLAND KOCH MICHAEL MAERTENS BRANKO SAMAROVSKI

Kurz vor Kriegsende 1944 führt eine Gruppe von Tito-Partisanen Veronika und ihren Mann Leo aus ihrem Schloss in Slowenien ab. In dem 2011 erschienenen Roman des bedeutenden slowenischen Schriftstellers lassen die Stimmen von fünf Personen das Bild einer schillernden jungen Frau erstehen: ein Offizier, die Mutter, der deutsche Wehrmachtsarzt, die Haushaltshilfe und ein Partisan berichten von dem Versuch, in kriegerischen Zeiten ein privates Idyll aufrechtzuerhalten. Bis der Strom der Geschichte diese Illusion mit sich fortreißt.

Drago Jančar wurde 1948 in Maribor, Jugoslawien (im heutigen Slowenien) geboren. Er studierte Jura, war PEN-Präsident und hat sich mit seiner publizistischen Tätigkeit gegen die ehemalige jugoslawische Regierung gestellt. 1974 wurde er wegen "feindlicher Propaganda" inhaftiert. Heute lebt er in Ljubljana und ist weiterhin politisch-publizistisch tätig. Jančar erhielt zahlreiche Preise, u. a. den Europäischen Literaturpreis, 2002. Im Folio Verlag erschienen zuletzt: "Der Baum ohne Namen" (2010), "Nordlicht" (2012), "Der Galeerensträfling" (2015).

Porträt Patrick Steinwidder
© Stefan Zoltan

Patrick Steinwidder studierte Kulturwissenschaft in Klagenfurt und Bologna (u.a. bei Maja Haderlap und Umberto Eco). Erster und einziger deutschsprachiger Regie-Absolvent der Royal Academy of Dramatic Art (RADA) London. Er inszenierte u.a. in München (Residenztheater), London (George Bernard Shaw Theatre und Camden People’s Theatre) und Klagenfurt (Stadttheater, Volxhaus). patricksteinwidder.tumblr.com

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