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König sein, Präsident werden

Interview
Sebastian Huber

Sebastian Huber im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke über Herrschaftsbilder vom Mittelalter über die Aufklärung bis heute. 

© Soukaina Joual

Sebastian Huber: Ungefähr in der Mitte des nach ihm benannten Stückes hat Richard II. eine Erkenntnis. Er stellt fest, dass es ihn offensichtlich zweimal gibt: als mächtigen König und als bedürftigen Menschen. Ernst Kantorowicz hat in seinem klassischen Werk Die zwei Körper des Königs auf diese Doppelnatur der mittelalterlichen Herrscher hingewiesen. In welchem Verhältnis stehen diese beiden Körper zueinander?

Albrecht Koschorke: Das mittelalterliche Verständnis vom Mysterium der Verkörperung des „body politic“, also des „ewigen“ Königtums im „body natural“, also im leibhaftigen, sterblichen Herrscherkörper bietet die Lösung eines technischen Problems monarchischer Herrschaft. Wie waren die Eide, die ihm geleistet worden waren, die Verträge, die er unterzeichnet, die Privilegien, die er verteilt hatte, nach dem Ableben des Herrschers (und in seltenen, aber prominenten Fällen der Herrscherin) zu bewerten? Zur Lösung dieser Frage entwickelte sich mit der Zeit die Vorstellung, dass es einen institutionellen Kern geben müsse, der über die Abfolge der verschiedenen Könige hinaus Geltung behielte. Da wird die Vorstellung des Amtes geboren, oder der Institution, wie wir sie heute noch kennen: Wer auch immer ein Amt bekleidet, eine Institution verkörpert – die Institution ist eigentlich das Ewige.

 

Die Vorstellung, dass sich eine Person von ihrer Rolle trennen lässt, ist ja auch für unsere heutige Vorstellung von Politik und politischer Vertretung – also von Repräsentation – ein zentraler Gedanke.

Ja, das ist der Kern unserer politischen Ordnung, wobei die Souveränität des Königs zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Souveränität der Verfassung übergegangen ist. Mittlerweile hält diese Position also ein Schriftstück, das durch das politische Tagesgeschäft, Deutungen und Kämpfe hindurch Kontinuität verbürgen soll. Ich will aber auf einen entscheidenden Unterschied hinweisen: Die mittelalterliche Idee der Verkörperung ist uns mittlerweile eher fremd geworden. Ein Repräsentant wird im modernen Verständnis in ein Amt eingesetzt; wenn er oder sie dieses Amt wieder verlässt, kehrt er oder sie in den Stand einer Privatperson zurück. Der abgesetzte König, den Shakespeare beschreibt, ist dagegen ganz auf seinen „natürlichen“ Körper zurückgeworfen, er ist zu völliger Nacktheit verurteilt, er hat keinen sozialen Ort mehr. Die Annihilierung des Körpers, der Tod Richards, erscheint in diesem Stück daher fast wie eine logische Folge. Offensichtlich bedeutet der abgesetzte König für seinen Nachfolger eine gewisse Gefahr, weil die Eigenschaft „König“ seinem Körper nicht vollständig genommen werden kann. „Unkinged Richard“ stellt einen eigenartigen und für die Legitimation seines Nachfolgers Heinrich IV. bedrohlichen Zwitterzustand dar. Historisch wird die Trennung von „body natural“ und „body politic“ in England knapp fünfzig Jahre später im Jahre 1649 erstmals vollzogen, als König Karl I. vom Parlament „im Namen des Königs“ zum Tode verurteilt wird. Das ist das Revolutionäre: Die beiden Körper des Königs werden auf zwei verschiedene Akteure verteilt, der „body politic“ wird nun durch das Parlament verkörpert, das den „body natural“ zum Tode verurteilt. Das wiederholt sich dann in der Französischen Revolution.

Wenn jede*r nur noch für sich selbst sprechen kann, dann werden aus verhandelbaren Rollen-Konflikten unverhandelbare Identitäts-Konflikte.

 

Wie hat sich diese Herrschaftslehre durch die Aufklärung und im Anschluss an die Revolutionen in der Neuzeit entwickelt?

Wenn man die Moderne betrachtet, dann ist es ihr vorübergehend gelungen, die Lehre von den zwei Körpern des Königs in Richtung einer repräsentativen politischen Ordnung weiterzuentwickeln. Wir leben von diesem Erbe, davon, dass wir die Amtsperson von der Privatperson trennen. Was wir dagegen heute beobachten, ist der Zusammenbruch dieser Trennung. Das hat schon vor einer Weile begonnen und manifestiert sich jetzt sehr deutlich in der derzeitigen politischen Krisensituation. Es zeigt sich, dass für diese Trennungslogik bisher kein Ersatz gefunden ist.

 

Können Sie diesen Zusammenbruch der Trennungslogik, wie Sie sagen, genauer beschreiben? Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt in unserer heutigen Beschäftigung mit dem Stück.

Das Bild des Amtsträgers oder der Amtsträgerin hat sich heute zu Teilen in das Bild der Prominenz verschoben. Ein frühes Beispiel in meiner Erinnerung ist die Affäre um den damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und seine Praktikantin Monica Lewinsky. Eine erotische Begebenheit im Oval Office, im Zentrum der Macht – da stellt sich natürlich die Frage, mit welchem Körper man es dabei eigentlich zu tun hat. Nähert sich ein übergriffiger Mann Monica Lewinsky, oder nähert sich ihr der Staat? Schon zuvor war Clintons Präsidentschaft durch eine auffällige Vermischung von Privatperson und Amt gekennzeichnet. So wollte bei einer Bürgerversammlung eine Schülerin von ihm wissen, welche Art von Unterhosen er trage: boxers or briefs? Und Clinton hat bereitwillig Auskunft gegeben, er ziehe Slips vor … Auf die Spitze getrieben wird das von der gerade zuende gehenden amerikanischen Präsidentschaft, in der sich die ganze Zeit alles um einen natürlichen Körper dreht, der den Amtskörper völlig absorbiert hat. Das Problem der transition, des Interregnums, das institutionell und in gewissen ritualisierten Abläufen geregelt ist, erweist sich daher in diesen Tagen als unerwartet anfällig.

Die Repräsentation, die Vertretung des Ganzen durch Einzelne, wird durch Authentizität und Identität ersetzt.

Wenn die Bürgermeisterin einer amerikanischen Stadt im Zuge der „Black Lives Matter“-Demonstrationen zu Protokoll gibt, sie sei zwar Bürgermeisterin, aber in erster Linie sei sie Schwarze, dann erscheint das erst einmal als nachvollziehbarer empathischer Akt. Aber gleichzeitig ist es natürlich extrem bedenklich. In diesem Moment kommt eine bestimmte Form der Identitätspolitik mit der Logik des Amtes in Konflikt. Nun ist selbstverständlich das, was ich hier Logik des Amtes nenne, nicht etwa unproblematisch. Wir haben mittlerweile verstanden, dass das Allgemeine, das Universelle, wie es seit der Aufklärung postuliert wurde, so allgemein und universell nicht ist, weil es immer weiß und männlich war. Frauen und marginalisierte Gruppen waren einfach nicht Teil dieses sogenannten Allgemeinen. Die Verkörperung der Rationalität, die für dieses Allgemeine einsteht, die es erkennen und bearbeiten können sollte, war immer eine weiße, europäische, männliche Figur meist fortgeschrittenen Alters.

 

Solche Repräsentationsfragen bewegen uns am Theater ja derzeit auch sehr. In einer Welt, in der – überspitzt gesagt – jede und jeder nur noch für sich selbst sprechen und nur von den eigenen Erfahrungen erzählen könnte, würde das Theater aufhören zu existieren. Gleichzeitig kann es nicht angehen, dass alle Figuren immer und ausnahmslos von weißen Körpern dargestellt werden, weil das ein komplett falsches Bild davon ergibt, wie Menschen sind.

Genau. Das Problem, das Sie für das Theater beschrieben haben, stellt sich politisch natürlich in genau derselben Weise. Wenn jede und jeder nur noch für sich selbst stehen und sprechen kann, dann werden aus verhandelbaren Rollen-Konflikten – denn die Idee der Rolle besteht ja darin, dass man in den Raum einer Verhandlung eintritt – unverhandelbare Identitäts-Konflikte. Bis zu dem Punkt, dass Menschen, die sich anheischig machen, für etwas Allgemeines zu stehen, dafür angegriffen werden – früher eher von links, heute eher von rechts –, sich eine Position anzumaßen, die ihnen nicht zusteht. Einerseits sind die Einsprüche gegen das Repräsentationssystem berechtigt, andererseits bleibt es unentbehrlich, solange wir in einer Welt leben wollen, in der politische Aushandlungsprozesse möglich sein sollen, und nicht nur Kämpfe. Das ist ein Thema, das uns im Moment in gewisser Weise überwältigt, und diese Tatsache macht das Theater im Moment so besonders wichtig. Das Theater ist der Ort, an dem die Logik der persona – also der „Person“ einerseits und in der ursprünglichen altgriechischen Bedeutung der „Maske“, „Rolle“ andererseits – ästhetisch ausbuchstabiert wird, die eine zutiefst politische Logik ist.

Albrecht Koschorke

ist Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz und Extraordinary Professor an der University of Pretoria. 2003 wurde er mit dem Leibnizpreis, dem höchsten deutschen Wissenschaftspreis, ausgezeichnet. In seinen neueren Forschungen interessiert er sich vor allem für das Erzählen – innerhalb und außerhalb der Literatur. Veröffentlichungen: “Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie” (Fischer 2012); “Hegel und wir” (Adorno-Vorlesungen 2013, Suhrkamp 2015).

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