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TOP TEN DREAMS

Małgorzata Sikorska-Miszczuk

Eine polnische Autorin, die an ihrem Theaterprojekt in London arbeitet, besucht das Freud-Museum und erinnert sich, dass Freud nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland 1938 aus Österreich emigriert ist. Sie betrachtet seine Sammlung und kauft im Museumsshop ein Kartenspiel mit den zehn häufigsten Träumen. Angeregt durch die Karten erfindet sie drei groteske Geschichten, die mit viel schwarzem Humor von Geschichtswirrnissen und menschlichen Trieben erzählen.

PERSONEN:

Autorin fliegende hunde freie kühe neujahrsschweine autorin

AUTORIN

Ich fragte die Rezeptionistin, wie man zum Freud-Museum kommt.

Sie: „Freud-Museum?“ 

Ich: „Ja, Sigmund-Freud-Museum.“

„Wer?“ Also schrieb ich für sie auf einen Zettel: „Sigmund Freud”. Sie las. „Das sagt mir nichts.“ 

Ich: „Sigmund Freud, Psychoanalyse?” Dann wollte ich noch etwas hinzufügen, aber ich kam zu dem Schluss, es wäre nicht sinnvoll. Ich sagte nur, sie solle dieses Museum für mich finden, wenn möglich. Sie tippte den Namen in den Computer ein, dann zog sie die Augenbrauen hoch, als würde sie sagen „Ich scheiß mich an, es gibt wirklich ein Sigmund-Freud-Museum“. Sie schrieb mir die Busnummer und die richtige Haltestelle auf. Natürlich stieg ich früher aus, ich vertraue Fahrplänen nicht, ich misstraue allem in gut organisierten Ländern. In meinem Land werden die seltsamsten Träume wahr, und das gilt wirklich für jeden Lebensbereich. Daher bin ich misstrauisch. Ich sehe mich sorgfältig um. Manchmal steige ich eine Station früher aus.

Ich habe grundsätzlich lange darüber nachgedacht, was ich euch erzählen soll, denn weder ist das Thema eindeutig, noch ist die vorgegebene Dauer (15–20 Minuten) typisch für mich. Normalerweise denke ich in der Kategorie eines ganzen Werks, sprich, eineinhalb Stunden, obwohl die Regisseure bei uns, etwa Krzysztof Warlikowski oder Krystian Lupa, ungefähr 5 Stunden für jede Geschichte benötigen. Dieses Format, das sie haben – nennen wir es Persönlichkeitsformat – besitze ich nicht. Thomas Mann formulierte das sehr gut in dem einen Satz über Peeperkorn im „Zauberberg“: Er war ein „Mann von Format“. Ich bin eine Frau ohne Format, das gebe ich zu, denn mein Land hat kein Format. 

In London, wo ich das Freud-Museum suchte, war ich mit meinem Stück „Karl Höckers Fotoalbum“ unterwegs. Das Stück erzählt die Geschichte des Adjutanten des letzten Lagerkommandanten von Auschwitz. Die Schauspieler ziehen SS-Uniformen an und stellen anhand der Fotos im Album verschiedene Situationen nach. Ich schrieb Dialoge für sie, einige davon basieren auf Improvisationen der Schauspieler, aber hauptsächlich sind es meine Worte. In besagtem Album gibt es keine Fotos des Lagers. Es gibt keine Opfer. Es gibt Fotos der „Lagerpromis“, wie Dr. Josef Mengele oder Rudolf Hess, oder von Lagerärzten, die beim Wein sitzen. Außerdem auch von einigen Ausflügen, Liebeleien, Jagden, ein ganz normales Leben halt. Wenn jemand glaubt, die Nazis seien eine Art Monster vom Mars, sollte er sich das Album nicht ansehen. Die Nazis, das sind wir. Im übertragenen Sinne versteht sich. Und genau so beschloss ich es in diesem Stück darzustellen. Was für einige Zuschauer vielleicht nicht vertretbar ist. Auf jeden Fall ist das Werk nicht leicht zu spielen. Es erfordert viel von den Schauspielern. Gerade am Tag der Aufführung, am 10. Oktober, wurde bekannt, dass Olga Tokarczuk den Nobelpreis erhalten hatte. Die Aufführung lief sehr gut, die Leute kamen, es war Donnerstagabend. Ich weiß nicht, ob viele Leute Lust auf einen „Holocaust-Donnerstag“ hatten, aber anscheinend doch. Auf jeden Fall begannen wir gleich nach der Aufführung zu trinken. Alle kamen langsam runter und sagten „unsere Tokarczuk“ und „der Nobelpreis ist unser“. Eine Freundin sagte, sie habe mit einem englischen Journalisten gesprochen, der prahlte, dass er mit Tokarczuk geschlafen habe, als sie in London gewesen war. Wir lachten und tranken mehr und mehr. Am nächsten Morgen fragte meine Produzentin, was ich vorhätte, wir hatten ja einen freien Tag. Ich sagte, in der Nähe gäbe es ein Freud-Museum.

Nach dem Anschluss beschloss Freud, Wien zu verlassen, und es war insofern ein guter Zufall, als sein Sohn Immobilienmakler in London war. Er fand für ihn ein Haus in 20 Maresfield Gardens, das seine Tochter später zu einem Museum umwidmete. Daher kann man in London jetzt alles sehen: den berühmten Sessel, die berühmte Couch und den berühmten Schreibtisch mit einer Sammlung von Figuren verschiedener Gottheiten – er war ein Sammler und es kam ihm nicht in den Sinn, dass etwas falsch daran sein könnte, die Originale ägyptischer sowie anderer Gottheiten zu kaufen und sie hie und da aufzustellen. Und wenn man jetzt etwas im Museumsshop kauft, packen sie es in eine Tasche mit Götterbildern, geschmückt mit Isis und Anubis und was weiß ich wem. Auf jeden Fall wollte ich etwas kaufen, ich dachte an eine Reproduktion der Zeichnung „Wölfe auf einem Baum, die ich von Schlafzimmerfenstern aus sehe und die mich anstarren“. Das stammt aus einem Traum eines Patienten von Freud. Leider war mir die Reproduktion zu teuer, was auf die Konferenz von Jalta und die darauffolgende kommunistische Armut oder einfach nur auf Knausrigkeit (immer noch das fehlende Format) zurückgeführt werden kann. Das Geschäft war so klein, dass ich nicht ewig darin herumgehen konnte. Ich kaufte Spielkarten unter dem Namen „Fake News Kanye West Game“. Du nimmst eine Karte heraus, auf der steht: „Jesus had 12 disciples. I have 28 millions”. Du musst raten, ob Kanye West es wirklich gesagt hat oder nicht. Du drehst die Karte und es steht „true” oder „fake news” darauf. Ein Spiel, das viel über unsere Zivilisation aussagt. Alles, was Kanye West sagt, erscheint mir gleichermaßen absurd, wie soll man also erraten können, was true und was fake ist? Dann sah ich eine Schachtel mit der Aufschrift „Dream Decoder: 60 Cards to Unlock Your Unconscious”. Auf der Schachtel ein Bild, das (wohl?) zu symbolisieren hatte, dass Träume durchgeknallt, um nicht zu sagen, scheißdurchgeknallt sind und die Weltordnung durcheinander bringen: riesige goldene Fische fliegen über die Stadt (und Fische fliegen nicht, haha), außerdem gibt es einen großen Fluss, und in der Mitte des Flusses sitzt ein Mann auf einem Sessel. Ich dachte, vielleicht ist es eine Wahrsagekarte – verdammt, meine Erzählung dauert etwas zu lange, wie schaffe ich es in 15–20 Minuten? – Nun, es stellte sich heraus, dass diese Karten keine Wahrsagekarten sind, sondern nur archetypische Traumsituationen darstellen, was bedeutet, dass es mindestens 60 Traumsituationen gibt, die der ganzen Menschheit gemein sind. Und unter diesen 60 gibt es zehn, die oben den Vermerk TOP TEN DREAM tragen. 

Weiß jemand, was die TOP-TEN-Träume sind?

Der erste Top-Ten-Traum heißt „Kann keine Toilette finden“. Der Hintergrund ist schwarz, darauf ein Labyrinth. In diesem Labyrinth läuft ein Mann umher und sucht nach einer Toilettenschüssel, die ebenfalls gezeichnet ist. Auf der Karte steht geschrieben, dass „die erfolglose Suche nach einer Toilette oder einem Waschraum ein Zeichen dafür ist, dass man sich im Wachzustand frustriert oder in irgendeiner Weise blockiert fühlt“.

Zweiter Traum: „Fliegen ohne Flügel“ 

Dritter Traum: „Unvorbereitet sein“

Der vierte: „Herausfallende Zähne“

Der fünfte: „Unbekannter, geheimer oder ungenutzter Raum“

Der sechste: „Nacktheit“

Der siebente: „Fallen“

Der achte: „Verfolgt werden“

Der neunte: „Unkontrollierte oder zu schnelle Autofahrt“ 

Der zehnte: „Tod oder Sterben“. 

Jetzt höre ich auf zu reden und – ta-taa, ta-taa! – Ich werde Kanye West mit TOP TEN DREAMS verbinden – es folgen drei Erzählungen über mein Land. Vielleicht sind sie wahr, vielleicht sind es nur scheißdurchgeknallte Träume?

(zu den Schauspielern) Ihr werdet zunächst einmal fliegende Hunde sein. Ich möchte, dass es für das Publikum erkennbar ist. Denn ohne euer Talent zur Verkörperung der Charaktere sind alle meine Worte leer, sie haben weder Fleisch noch Blut. Jetzt wird es also einen Traum geben, in dem es Hunde regnet, die zwischen den Wohnblöcken in meinem Land fliegen. Vielen Dank im Voraus, liebe KollegInnen SchauspielerInnen.

 

Der erste Traum: Fliegende Hunde

FLIEGENDE HUNDE (sprechen während sie fliegen) 

LUCKY

Von welchem Stock sind Sie weggeflogen?

MAX

Vom neunten. Und Sie?

LUCKY

Vom vierten.

MAX

Und was sind Ihre Eindrücke?

LUCKY

Ich sage Ihnen eines: es ist unbeschreiblich, so ohne Flügel zu fliegen. Ich bin von einem Machtgefühl ergriffen. Und meine Weltordnung wurde völlig durcheinandergebracht. Aber zum Besseren. Denn ich bin, mein lieber Herr, ungläubig, ich erkenne keine Hundekirche an und auch keine andere alternative Esoterik, wie die Große Hundeliebe, die jeden liebt und...

MAX

Es tut mir leid, ich rede Ihnen jetzt hinein, aber ich habe mir einen Hausaltar des Anubis eingerichtet.

LUCKY

Ist das der mit dem Hundekopf? 

MAX

Ja.

LUCKY

Und?

MAX

Es scheint geholfen zu haben. Ich kann endlich Laut geben. Das ist nämlich das größte Problem bei mir zu Hause. Sobald ich etwas sage, aufbelle, eine furchtbare Aufregung. Dieses „dumme Vieh“, das …

PUFI

Meine Herren, ich schließe mich dem Gespräch an, aber müssen wir uns gegenseitig siezen? 

MAX

Max

LUCKY

Lucky

PUFI

Bei mir wiederum ist der Neue von meiner Besitzerin … nun ja, mir gegenüber nicht sehr positiv eingestellt. Weil ich manchmal in die Wohnung pinkle. Weil sie pausenlos zu tun haben, immer außer Haus sind. Daher sage ich euch mal, wenn ich jetzt fliege, fliege ich und pinkle. Sehr befreiend. 

MAX

Ich verstehe dich. Ich persönlich belle, wenn ich fliege. 

PUFI

Superbefreiend.

LILLY

Hey, Jungs, ich bin Lilly. 

MAX, LUCKY, PUFI

Hey, Lilly!

LILLY

Ich fliege ohne Grund. Ratzfatz – und ich fliege vom siebten Stock. Mein Traum ist, dass ich fliege und sehe, wie sie das Fenster schließt.

LUCKY

Ah, Coco fliegt auch. 

COCO

Wow! Völlig scheißdurchgeknalltes Fliegen. Mit mir fliegen gemeinsam der Fernseher, die Sessel, die Laden, die Betten, die ganze Stereoanlage. Der Traum hat so begonnen, dass ich sehe, wie die Wohnung immer leerer wird und ich meinen Herrn und Herrscher sehe, der den Einrichtungsgegenständen das Fliegen befiehlt. Und plötzlich sieht er mich, hebt mich auf und sagt: „Du wirst auch fliegen, Coco.“ Und ich fliege. 

AUTORIN

Aber ihr sprecht immer noch von dem Traum, in dem ihr ohne Flügel fliegt. Und ich glaube, ihr seid in einem anderen Traum namens „Fallen“. 

FLIEGENDE HUNDE 

Fallen?

AUTORIN

Ja. 

FLIEGENDE HUNDE 

Wie auf der Karte „Fallen“, mit dem beigen Himmel und dem Mädchen mit schwarzen Haaren, das hinabstürzt?

AUTORIN

Ja.

FLIEGENDE HUNDE

Oder sind wir vielleicht im Traum namens „Wasser“? Weil ja das „Regnen von fliegenden Hunden“ erwähnt wurde?

AUTORIN 

Der Wasser-Traum ist aber nicht in den TOP TEN DREAMS

FLIEGENDE HUNDE

Okay. 

AUTORIN

Meiner Meinung nach, wenn ihr im Traum „Fliegen ohne Flügel“ fliegt, dann werdet ihr weiterfliegen – über Berge, Städte, Wälder – und das ist toll, aber wenn ihr im Traum „Fallen“ seid, ist das eine andere Situation. Ich lese kurz vor: „In einem Traum zu fallen ist ein klares Zeichen dafür, dass eine Situation oder Beziehung außerhalb Ihrer Kontrolle liegt.“

FLIEGENDE HUNDE

Das ist irgendwie schlimmer.

AUTORIN

Irgendwie schon. Seid ihr alle von verschiedenen Stockwerken weggeflogen? 

FLIEGENDE HUNDE

Ich schon.

Ich auch.

Und ich.

Mhm.

Jup.

AUTORIN

Wer ist als erster los geflogen? Ich würde sagen, du, Max, vom neunten?                                

Du, Max?

Max?

Lucky? Pufi? Lilly? Coco? Wo seid ihr?

FLIEGENDE HUNDE

Ta-taa! Wir sind da! Hattest du Angst, dass wir abgestürzt und tot sind? Es war nur ein Traum, haha.

 

Der zweite Traum: Freie Kühe

AUTORIN (zu den Schauspielern) 

Den ersten lustigen Traum haben wir also hinter uns, großartig. Jetzt werdet ihr freie Kühe sein. 

Gerade eben wurde darüber gesprochen, dass es in meinem Land Tierbesitzer gibt, die sich spontan ihrer Lieblinge entledigen. Wir wissen aber nicht, ob das stimmt. Das Regnen von fliegenden Hunden klingt nicht sehr glaubwürdig. Im zweiten Traum haben wir also eine Situation, in der euer Besitzer – vielleicht werde ich gleich versuchen, ihn zu verkörpern – anders ist. Er ist gut. Ich fange mal an: ihr seid freie Kühe und wandert mal hierhin, mal dort. 

Was ihr hauptsächlich tut, ist vögeln. Ihr müsst das jetzt nicht darstellen, aber die Wahrheit ist, ihr pflanzt euch ständig fort. Das ist die Situation in diesem Top-Ten-Traum mit dem Titel „Verfolgt werden“ – und er wird seinem Namen alle Ehre machen.

KUH PIKA 

Ich habe „Den Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk gelesen und habe mir gedacht, es gibt dort nichts über Sex. Bei Houellebecq geht es in jedem Roman um Sex. 

STIER DUKE 

Scheiße, Pika, Sex, das hätte ich nicht von dir erwartet. Du weißt, dass ich Houellebecq verdammt liebe. Und Sex.

KUH PIKA

Bei dieser Tokarczuk, weißt du, stelle ich mir vor, dass sie als Schriftstellerin die Fahne der Hoffnung schwenkt, dass die Zeit kommen wird, in der sich die Menschheit verbessern – evolvieren – auf eine höhere spirituelle Ebene kommen wird. Sie wird vor Mitgefühl und Liebe beben. Und dass es nur eine Frage der Zeit und der Aufklärung ist.

STIER DUKE

Pika. Das klingt ja nach Sarkasmus. Ich habe gedacht, du bist eine vertrocknete, bibliothekarische Kuh.

KUH PIKA 

Dann hast du falsch gedacht. Hör zu: Wenn Houellbecq sagt: „Ich liebe“, fügt er gleich hinzu, „aber ich werde diese Liebe verraten“, weil er weiß, dass die Menschen als Spezies Schweine sind. Verzweifelte Schweine. Sie wollen immer noch diesen „erhabenen Moment“ in sich bewahren, wenn sie alle „erhabenen“ Gefühle – Liebe, Mitleid, Bindung – empfinden, aber sie können diese Gefühle nicht länger festhalten. 

STIER DUKE

Scheiß auf die Menschen. Küss mich.

KUH PIKA (küssend) 

Und das hat für uns Tiere enorme Konsequenzen. 

Denn welche Diagnose der Menschlichkeit ist wahr? Houellebcq beschreibt einen Sturz nach dem anderen, das Schwein im Menschen und die Verzweiflung darüber.

STIER DUKE (küssend) 

Deswegen habe ich schon immer Houellebecq lieber gehabt, verdammte Scheiße.

AUTORIN

Ich, als Besitzerin dieser heiß debattierenden Kuhherde, möchte darauf hinweisen, dass die Menschen keine Schweine sind. 

Diese Herde gehörte mir, ich hatte sie von meinem Vater geerbt. Aber vor zehn Jahren wurde mir der Pachtvertrag über 30 Hektar Wiesen gekündigt, und ich selbst habe nur 2 Hektar Weideland, also habe ich die Kühe laufen lassen. Ich hätte sie zum Schlachten geben können, aber ich habe es nicht getan. Seitdem läuft die Herde selbstständig umher, weidet auf den Feldern anderer Leute und richtet bei anderen Bauern Schaden an. Kein Tierarzt kontrolliert sie mehr. Sie wurde aus allen Registern gestrichen und konzentriert sich auf Sex. Zurzeit sind es 180 freie Kühe, und ich habe offiziell aufgehört, sie zu besitzen, weil sie mir auf dem Gerichtsweg genommen wurden. Die derzeitige Regierung beschloss, genug ist genug, was dieses Chaos mit den freien Kühen angeht. 

Der Tierarzt aus der Gemeinde hat befohlen, die Herde abzuschlachten und die Leichen wegen der epidemiologischen Bedrohung zu entsorgen. Die Kühe sind zwar verdammt gesund, kommen im Sommer und Winter ohne Ställe und Antibiotika aus, werden aber ausgerottet. Lauft! 

FREIE KÜHE

In den letzten Jahren lebten wir himmlisch

Wir lasen Houellebecq und Tokarczuk

Plötzlich begann sich die Situation zu verschlechtern

Tod?

Schlachthof?

Werden unsere verwilderten, aber ausgestochenen Augen vorwurfsvoll auf die Engel des Todes blicken?

Sprich, auf die Vollzeitbeschäftigten?

Die eher unempfindlich gegenüber toten Blicken sind?

Weil sie nur, einfach so, bei der Arbeit sind?

Wo bleiben das Techtelmechtel, die Partys, das normale Leben

Wir flehen euch an

Wohin können wir fliehen?

Es gibt Kinder unter uns

Die literarischen Weltdiagnosen haben sich auf schmerzliche Weise bewahrheitet

Wer wird für uns eintreten?

Werden die Aktivisten kommen?

Ist der Bewusstseinsgrad bereits hoch genug?

Müssen wir jetzt für die Jahre der Freiheit zahlen?

Müssen wir? Werden wir? Wer? Wohin?
 


Der dritte Traum: Neujahrsschweine

AUTORIN
Ich würde jetzt gerne die Stimmung von einer aufgeheizten auf eine alltägliche herunterschrauben. Diesmal werdet ihr auf meine Bitte hin, und es klingt ein wenig unseriös, haarige Schweine sein.

Und ich möchte, dass ihr mit eurer gesamten Schauspielkunst die Neujahrsatmosphäre auf einem kleinen ländlichen Hof am 31.12.2019 vor uns erschafft, vor uns hinzaubert. Denn ihr seid haarige Neujahrsschweine. Zu meiner Rechtfertigung möchte ich vorbringen, dass ich vor einiger Zeit, als ich in Wien war, das Stück „Der Messias: Bruno Schulz“ für österreichische Schauspieler geschrieben habe und einer der Schauspieler den Nestroypreis erhalten hat – unter anderem für die Rolle des Nazi-Kommandanten, und ein Nazi-Kommandant ist ja eigentlich auch ein Schwein. Ich bin den Schauspielern also manchmal von Nutzen, haha, und ich kann es weiter sein, ungeachtet meines fehlenden Formats. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Traum spielt sich in einer kleinen Gruppe von Schweinen am Silvesterabend ab.


NEUJAHRSSCHWEINE

Wir können schon diese Neujahrsschweine spielen 

Eigentlich schon

Obwohl es interessanter wäre, wenn du dich an die aktuelle Geschichtspolitik deines Landes halten würdest

Und es nicht riskieren würdest, dass man dir dann vorwirft, die „Pädagogik der Schande“ zu betreiben, indem du diejenigen Geschichten auswählst, die dein Land kompromittieren

Auch wenn das „scheißdurchgeknallte“ Träume sind

Die Geschichtspolitik ist nichts Dummes

Schließlich hat jedes Land sein eigenes historisches Narrativ

Wir hatten auch das Märchen über Österreich als erstes Opfer der Nazis 

Obwohl der Anschluss auf den Fotos eher wie eine fröhliche Party aussieht

Und du kennst dich mit Fotos aus, nicht wahr?

Du sagtest sogar, dass jeder ein Nazi sein könnte

Was, wie du selbst bemerkt hast, bei den Zuhörern Widerspruch erregt – denk darüber nach

Wenn du dich also an die erwünschte Erzählung anpassen würdest, dann könnten wir, statt haarige Neujahrsschweine … 

Na, die Luftschlacht um England spielen

Und wir wären die polnischen Piloten?

Wir würden gegen die Nazis um London kämpfen, damit dieses Freud-Haus weiter bestehen kann

Damit sie ihre blöden Karten im Geschäft kaufen kann 

Alles wäre super: die Piloten, der Krieg, London, aber so sind wir Schweine, und zwar Neujahrsschweine und wir müssen diese Abschweifungen beenden

Sauerei!

Wir müssen in unseren Schweinezustand zurückkehren 

Erstens stehen wir nicht unter tierärztlicher Aufsicht – es ist eine verdammte Pest in diesem Land mit der Nichteinhaltung der Vorschriften

Wir sind unregistrierte und ungeimpfte Schweine

Weiß der Teufel, was uns unser Besitzer, dieser Alkoholiker, zu fressen gibt 

Wahrscheinlich Reste vom Tisch, obwohl die Europäische Union es verbietet

Als wäre er um die Europäische Union besorgt

Und jetzt liegt er da. Besoffen. Das war‘s. 

Wir müssen uns langsam echt beeilen, unser Timing ist furchtbar

15-20 Minuten…

Lass uns der Sache auf den Grund gehen 

Was ist der Grund der Sache?

Man müsste schnell, witzig und graziös darauf hinweisen, dass die Zeit knapp wird 

Das Jahr 2020 hat begonnen und unser Besitzer liegt noch immer

Gibt es ein Lied über die vergehende Zeit? 

Mir kommt das Lied “Forever Young” in den Sinn: Forever young, I wanna be forever young … 

Ich glaube, er ist tot

Und ich glaube, er lebt, aber er ist betrunken wie eine Messerschmitt

Sagt man das über die Betrunkenen in Polen?

AUTORIN

Ja

NEUJAHRSSCHWEINE

Komisch

Hunger habe ich

Denk nicht mal daran

Ich habe auch Hunger

Und ich erst

Wir würden satt ins neue Jahr gehen

Außerdem wäre es auch symbolisch

Dass die Natur endlich die Zähne zeigt

Und wisst ihr, was mir an dieser Idee gefällt?

Was denn?

Wir werden sterben, aber niemand wird uns essen

Woher weißt du das?

Laut Vorschrift dürfen Tiere, die zum Verzehr bestimmt sind, nicht mit anderem Fleisch gefüttert werden, und schon gar nicht mit Menschenfleisch

Du bist abstoßend.

Vielleicht werden wir auch nicht sterben? 

Vielleicht wird sich eine Stiftung um uns kümmern? Wie um diese Kühe?

Hey, du, was ist das für ein Traum?

AUTORIN

Das ist der Top-Ten-Traum über das Sterben: die Karte „Tod oder Sterben“.

NEUJAHRSSCHWEINE

Liest du uns die Deutung vor?

AUTORIN 

„Träume über den Tod sind typischerweise ein Zeichen für positive Veränderungen, die Vergangenheit abzustreifen und sich vorwärts zu bewegen.“

NEUJAHRSSCHWEINE 

Na siehst du

Wir haben also eine richtige Entscheidung getroffen

Unser Besitzer, ein 72-jähriger Alkoholiker, wird dank uns aufhören zu trinken

Für immer

Er wird aufhören, gegen die EU-Regeln zu verstoßen

Er wird nicht mehr allein leben

Die Autopsie wird nicht unangenehm sein

Alles, was übrig blieb, sind ein Stück Schädel und nackte Knochen

Und uns wird niemand essen

Da wäre ich mir nicht so sicher

Gleichgestellt im Sterben

Henker und Opfer in einem?

So oder so haben wir das Jahr 2020 mit einer klaren Ansage begonnen: Wir sterben wie Schweine, aber wir haben ein menschliches Herz

NEUJAHRSSCHWEINE (singend)

Hey, Schweine, lasst uns die Hände reichen

Möge die Erde jeden unserer Schritte lieben

Lasst uns die Welt sanft betreten

Und leichtherzig zur Schlachtbank gehen

Wir werden gemeinsam über den Friedhof ziehen

Die Menschen und die Tiere

Und das ist ein ziemlich guter Anfang

Einer neuen Geschichte

 

EPILOG

AUTORIN

Die Presse berichtete, dass im Hof eines der Häuser im Dorf Osiek in der Nähe von Lubin menschliche Überreste entdeckt wurden. Ein Nachbar wollte bei einem 72-jährigen Landwirt, der seit Silvester nicht mehr gesehen wurde, vorbeischauen. An diesem Tag wurde der Mann laut Zeugenberichten zuletzt gesehen, und zwar auf seinem Hof, wo 12 Schweine der ungarischen Mangalizarasse frei herumliefen. Die Staatsanwaltschaft kennt das genaue Datum des Vorfalls nicht und wird die Ermittlungen höchstwahrscheinlich einstellen. Vorläufige Ergebnisse der Autopsie bestätigten, dass der Mann von den Schweinen gefressen wurde. Es wird sich jedoch bestimmt nicht feststellen lassen, ob es zu seinen Lebzeiten oder nach seinem Tod geschah.

Dies ist der Fall, weil praktisch nur noch Knochen vorhanden sind. Nach dem Vorfall wurden die Schweine in die Pflege der Tierärztin der Gemeinde, Dr. Barbara Nowik, gegeben. Sie teilte mit, dass das Fleisch der Kannibalenschweine gewiss nicht verkauft werden würde.

ENDE

 

Dieser Text wurde im Rahmen des Kollektivsalons im Kasino am Schwarzenbergplatz in Szene gesetzt. Mit Felix Kammerer, Andrea Wenzl, Tim Werths

Szenische Einrichtung von Marlene Karla Traun

© Agata Schreyner
  über die AUtorin

Małgorzata Sikorska-Miszczuk, geboren 1964, ist Dramatikerin, Drehbuch­autorin und Librettistin. Sie studierte Journalismus, Politikwissen­schaft und Gender Studies an der Universi­tät Warschau und absolvierte die Drehbuch­werkstatt der Filmschule Łódź. Sikorska-Miszczuk debütierte 2006 mit „Śmierć Człowieka-Wiewiórki“ (Der Tod des Eichhörnchenmanns) und hat seither zahlreiche Stücke für das Theater geschrieben, darunter „Waliz­ka“ (Der Koffer), „Mesjasz“ (Bruno Schulz: Der Messias) oder „Album Karla Höckera“ (Das Album: Karl Höcker). Sikorska-Miszczuk schreibt auch Opernlibretti sowie Drehbücher für Film- und Fernsehwerke. Zu ihren zahlreichen Literatur- und Theaterpreisen zählen der Hauptpreis und der Publikumspreis bei Metaphors of Reality für „Walizka“ (Der Koffer) sowie eine Auszeichnung beim Nationa­len Wettbewerb für polnische zeitgenössische Stücke, der Gdynia Drama Award und der Grand Prix des Theaterfestivals in Sopot. Ihr Stück „Bruno Schulz: Der Messias“ wurde von der Europä­ischen Theaterkonvention zu einem der besten zeitgenössischen Stücke Europas gewählt. Ihre Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und weltweit aufgeführt. Małgorzata Sikorska-Miszczuk lebt in Warschau.

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