Dieser Bereich ist nicht für Screenreader und Tastatur-Bedienung optimiert. Der Bereich stellt einen Ausschnitt des Spielplans dar. Der Spielplan kann über das nächste Element oder über die Navigation erreicht werden.

"WERDE SO DÜNN WIE EIN HAAR, ABER REISSE NICHT"

Nava Ebrahimi

Der 2. November 2020 ging als Terrornacht in die Geschichte Wiens ein. Es war auch der letzte Abend, an dem im Burgtheater Theater gespielt werden sollte. Danach folgte der Lockdown und das Theater blieb für 307 Tage geschlossen. Die Wiedereröffnung des renovierten Hauses am 5. September beging das Ensemble des Burgtheaters gemeinsam mit der Autorin Nava Ebrahimi. Wir drucken ihre vielbeachtete Festrede in gekürzter Form. Die ganze Redekönnen Sie auf YouTube ansehen, Sie finden das Video unten eingebettet.

 

 

© Matthias Horn

Die in Graz lebende Schriftstellerin Nava Ebrahimi wurde 1978 in Teheran geboren. Für ihren ersten Roman „Sechzehn Wörter“ wurde sie 2017 mit dem Österreichischen Buchpreis, Kategorie Debüt ausgezeichnet. In diesem Jahr erhielt sie den renommierten Bachmannpreis.

Zu Beginn ein Bekenntnis, ohne das ich nicht anfangen kann. Der Versuch, diese Rede zu schreiben, hat mir eine schlimme Schreibblockade beschert, eine richtig schlimme Schreibblockade mit Tränen und ewig langen Telefonaten mit Freundinnen und Freunden, ich war kurz davor, meine Therapeutin nach Jahren wieder anzurufen.

Ich verfluchte mich mehrmals täglich dafür, diesen Auftrag angenommen zu haben und hätte ich jemanden dafür schlagen können, ich hätte es getan, so verzweifelt war ich an manchen Tagen. [...] Mir fällt kein einziger gerader Satz ein, auch weil ich weiß, oder glaube zu wissen, warum ich hier bin, ich bin als Migrantin eingeladen – also nicht nur, aber irgendwie auch – und jetzt erwarten Sie von mir migrantinnenkonformes Zeug, was auch immer das sein mag, aber ich soll mich auf jeden Fall marginalisieren und der Politik, dem Patriarchat, der Mehrheits-, nein, der Dominanzgesellschaft den Spiegel vorhalten. Meine Rolle ist vorgeschrieben in gewisser Weise, ich soll mehr als zwei Jahrhunderte männliche Herrschaft in diesem Haus wettmachen, mehr als zwei Jahrhunderte männliche Intendanz, männliche Autoren-, Dramaturgen- Regisseurenschaft, weiß größtenteils, aber sicher nicht vollständig, denn was hätte das geheißen vor 100 Jahren. Aber deshalb, ganz klar, diese Blockade in mir, mehr als zwei Jahrhunderte Burgtheater, Jahrhunderte weißer Männer, hier noch sehr lebendig, lasten auf mir und ich soll meine Rolle spielen, mich aber zugleich originell freischreiben, soll mich wegschreiben von den weißen Männern und damit auch irgendwie mithelfen, das Burgtheater hinzuschreiben auf einen neuen Weg. Wir stehen auf den Schultern von Giganten, bitte, soll das ein Witz sein? Die Giganten stehen auf mir! Sie plätten mich, machen mich mundtot, blicken aus ihren missgünstigen Augen zu mir herab. [...] Wie soll ich unter solchen Bedingungen irgendetwas sagen, etwas halbwegs Gescheites? Was ist überhaupt noch gescheit, wer ist überhaupt noch gescheit, ich habe da gerade ein wenig das Vertrauen verloren, wenn nicht einmal alle NATO-Länder-Geheimdienste zusammen voraussagen konnten, dass die Taliban zwischen zwei Mittagspausen Kabul einnehmen werden. Und wenn die Geheimdienste doch so gescheit waren und es gewusst haben und nur vorgeben, es nicht gewusst zu haben, dann ist alles noch viel schlimmer, das möchte ich gar nicht glauben. [...]

Ich wundere mich über jede und jeden, der noch an ein Pult treten und ein Wort herausbringen kann. Fällt Ihnen nicht auf, dass alles schon unendlich oft gesagt wurde? Die Rede, die Navid Kermani vor 16 Jahren zum 50. Jubiläum der Wiedereröffnung des Burgtheaters gehalten hat, hätte ich heute wieder halten können, ich hätte nur ein paar Dinge ändern müssen, zum Beispiel Straße von Gibraltar gegen Ägäis austauschen und so, oder nein, auch die Straße von Gibraltar bleibt ein Massengrab im Mittelmeer, es sind nur neue hinzugekommen, die Ägais zum Beispiel. Stimmt, ich hätte einfach die Rede von Navid Kermani noch einmal halten können, auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen, aber die Rede ist immer noch genau so aktuell wie vor 16 Jahren, noch aktueller eigentlich, und keine und keiner hätten bemerkt, dass sie die Rede schon einmal gehört haben, sogar unsere Namen klingen zum Verwechseln ähnlich, das wäre das perfekte Verbrechen gewesen, das perfekte Verbrechen mit der Vergeblichkeit. [...] Nein, stopp, ich hätte noch etwas ändern müssen an Navid Kermanis Rede, er konnte sich damals, 2005, wenigstens an den offenen Grenzen zwischen Nordkap und Tarifa ergötzen, selbst, wer die Rede nur liest, liest die körperliche Freude über den Triumph heraus, eine fast ungläubige Freude über 5931 grenzenlose Kilometer, immerhin, auch, wenn die Grenzen, die dann kommen, die EU-Außengrenzen tödlich sind. Doch selbst das ist vorbei, selbst das ist schlimmer geworden, die Schlagbäume und die Nationalismen innerhalb dieser 5931 Kilometer sind zurück, vermutlich waren sie aus den Köpfen nie weg, aber sehen Sie, genau das meine ich; jeder Satz erfordert einen Nachsatz, um etwas weniger falsch zu werden, und so hört es nie auf und so scheint sich alles in Beliebigkeit zu verlieren. Die Beliebigkeit endet bei der Menschenwürde, bei den Menschenrechten, dort ist Schluss, das ist der Grenzstein jeder Argumentation, denn dahinter lauert der Abgrund, so schien es bisher gewesen zu sein, es gaben sich bisher zumindest alle Mühe, so zu tun als ob, auch wenn viele von uns schon länger den Verdacht hegen, dass Menschenrechte ein Privileg sind, und das bestätigte sich nun in Kabul wieder einmal, mit einer Drastik wie selten zuvor, wir sehen dabei zu, wie Hunde und Katzen evakuiert, während Afghaninnen und Afghanen zurückgelassen, teilweise dem sicheren Tod ausgesetzt werden. Kurz und Nehammer haben anscheinend jede Scham verloren, schüren mit ihren Aussagen Rassismus, absichtsvoll oder nicht macht im Ergebnis keinen Unterschied, sie erklären die Menschenrechtskonvention für hinfällig und damit das Recht auf Asyl zu einer Gnade. Die Botschaft, die bei vielen, vielen Menschen mit Migrationsgeschichte in Österreich ankommt, und auch bei mir, wenn ich in mich hineinhorche: Ihr habt es zwar hierhergeschafft, trotz aller Steine, die wir euch in den Weg gelegt haben, also bleibt halt, aber noch mehr von euch wollen wir nicht! No way! Da verkaufen wir lieber die Menschenrechte und alle Ideale der Aufklärung, derer wir uns sonst so gerne rühmen. [...] Ich weiß, das ist so eine Art erweiterte Egozentrik, zu glauben, die Zeit, in der wir leben, sei besonders schlimm, global gesehen natürlich, wie können wir nicht mehr global sehen? Alle Zeiten sind gleich schlimm, aber manche Zeiten sind schlimmer. Menschen, die sich an startenden Flugzeugen festklammern, weil sie überleben wollen – das, glaube ich, ist eine neue Dimension. [...] Wie soll das einen, wie soll mich das nicht sprachlos machen, wie soll mich das nicht zerreißen, sagen Sie mir das bitte. [...] Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine Kunstfigur, der ich diese Rede anlasten könnte, aber nein, am Ende bin ich nur ich selbst, und am Ende kann ich nur diese Rede schreiben und keine andere, und alle unter Ihnen fühlen sich bestätigt, die denken, die hat ja eigentlich nichts zu sagen, kommt nicht von Homer, schätzt die Schönheit unserer Sprache nicht, spielt nicht so herrlich selbstvergessen mit ihr herum wie wir es lieben, aber darf trotzdem da vorne stehen, weil sie dunkle Augen hat und in einem dieser Länder geboren ist, in ... na ja, in einem dieser Länder da unten halt, jedenfalls nicht in Norwegen. Die Schönheit Ihrer Sprache, bei der Gelegenheit, ist mir egal, ich hätte auch jede andere genommen, es ist reiner Zufall, dass ich nicht Englisch oder Schwedisch oder Französisch spreche, ich hätte mir jede andere Sprache zu eigen gemacht für meine Zwecke. [...]

Nava Ebrahimi: Rede zur Wiedereröffnung des Burgtheaters am 5. September 2021

Stehen Sie zu Ihren Gedanken, lassen Sie sie raus wie einen Schmetterling und schauen Sie, auf welcher Blüte er landet und ob er sie bestäubt oder nicht, oder versuchen Sie doch einfach auch mal eine Rede zu schreiben, bringen Sie alles zu Papier, schämen Sie sich nicht dafür.

Ich hoffe, das trifft Sie jetzt nicht persönlich, aber selbst wenn, bitte stehen Sie zu Ihren Gedanken, unterdrücken Sie sie nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Stehen Sie zu Ihren Gedanken, lassen Sie sie raus wie einen Schmetterling und schauen Sie, auf welcher Blüte er landet und ob er sie bestäubt oder nicht, oder versuchen Sie doch einfach auch mal eine Rede zu schreiben, bringen Sie alles zu Papier, schämen Sie sich nicht dafür. Aber seien Sie bitte nicht böse auf mich, wenn Sie Ihre Rede im Gegensatz zu mir zu Hause, allein vor dem Spiegel halten müssen, glauben Sie mir, ich würde gerne mal mit Ihnen tauschen und wie Sie im Publikum sitzen mit dem Gefühl: Dass ich hier sitze, das ist die größte Selbstverständlichkeit der Welt und ich habe es mir verdient, womit auch immer, wie auch immer habe ich es mir verdient, dass ich hier sitze und meine Regierung meine Eintrittskarte mit einem Wahnsinnsgeld subventioniert.

Die Philosophin Lisa Herzog hat mich darauf gestoßen, dass verdienen und verdienen, to earn und to deserve, im Deutschen dasselbe Wort sind, und deshalb kommen wir da manchmal vielleicht etwas durcheinander, deshalb sind wir vielleicht geneigt zu glauben, dass wir verdienen, was wir verdienen. Dabei haben wir uns das meiste nicht verdient, sondern die wirklich wichtigen Entscheidungen für ein Leben, zur welcher Zeit wir an welchem Ort und vor allem in welche Familie wir hineingeboren wurden, sind purer Zufall, dafür kann niemand von uns etwas. Wir, die allermeisten von uns, vermute ich, sitzen oder stehen hier heute also ohne es uns verdient zu haben, ausgenommen meine Mutter, sie kam als Frau, als Migrantin, als Alleinerziehende vor 40 Jahren nach Deutschland und mit dieser Kombi hat man bis heute die schlechtesten Karten, also sie, lässt sich sagen, hat sich ihren Platz im Burgtheater heute wirklich verdient. [...] Sie werfen mir jetzt bestimmt innerlich unter anderem vor, dass es bislang viel zu sehr um mich und um Sie ging – Sie haben recht, das fällt mir auch gerade auf, es sollte um das Burgtheater gehen, das 307 Tage geschlossen hatte, so lang, wie noch nie, nicht einmal während der Weltkriege! Ich sollte Aufbruchstimmung verbreiten, einen Anfang markieren, ich sollte in eleganten Wortwendungen bekräftigen, was Sie ohnehin schon wissen, sonst wären Sie ja nicht hier, nämlich dass wir das Theater brauchen, dass die Gesellschaft Kultur braucht und all das, aber mir fällt gerade nichts dazu ein, nichts, was nicht schon 1000 mal beteuert worden wäre, und da fällt mir etwas ein, oh mein Gott, das hatte ich ganz vergessen, ich hatte den 2. November 2020 vergessen, den letzten Abend im Burgtheater, bevor es schließen musste, der Abend, an dem ein junger Mann im Namen einer Religion in Wien wahllos vier Menschen erschoss, dass das auf einen Tag fiel, eine Dramatik, die könnten wir uns nicht ausdenken und die wollen wir uns auch gar nicht ausdenken, weil diese Dramatik zu stumpf, zu platt, zu zufällig, ganz einfach zu sinnlos wäre. In den Dramatiken, die wir selbst erschaffen und die wir auf die Bühnen bringen, passiert, was passiert, weil Menschen lieben und eifern, begehren, neiden, gieren und geizen, simulieren, schweigen, irren und reifen, wie Menschen halt sind. Und weil wir diese Dramatiken selbst erschaffen und mit Sinn füllen, so schwer auszumachen er manchmal auch zu sein scheint, haben wir sie in unserer Gewalt, beherrschen wir sie, aber können uns dennoch überwältigen lassen, auf einer Art inneren Probebühne fürs Leben, und vielleicht, ja, weil wir uns auf diese Weise impfen wollen gegen das Unvermeidliche, gegen die schrecklichen Dinge, die passieren werden auf Erden, so lange wir sie bewohnen, und die so oft sinnlos daherkommen, egal, wie sehr wir uns bemühen, einen Sinn zu finden.

Halte die Welt nicht auf Abstand, lass sie an dich heran, geh mit deinem Mitgefühl immer wieder an deine Grenzen, strapaziere dich mit Widersprüchlichkeit – und wenn es droht dich zu zerreißen, erinnere dich daran, dass alles zusammengehört, dass wir alle zusammengehören, lass das Band nicht reißen. 

„Werde so dünn wie ein Haar, aber reiße nicht“, das ist ein iranisches Sprichwort, das mein Vater oft zu mir sagte, und ich fragte nie nach, was genau er damit meinte, aber inzwischen habe ich mich auf eine Deutung festgelegt: Halte die Welt nicht auf Abstand, lass sie an dich heran, geh mit deinem Mitgefühl immer wieder an deine Grenzen, strapaziere dich mit Widersprüchlichkeit – und wenn es droht dich zu zerreißen, erinnere dich daran, dass alles zusammengehört, dass wir alle zusammengehören, lass das Band nicht reißen. 
Und ich hatte gesagt, es ginge hier nicht um mich oder um Sie, aber das stimmt nicht ganz, genauer betrachtet geht es hier sehr wohl um mich und um Sie, genauer um uns, aber es geht nicht um mich als Nava Ebrahimi, um Gottes willen, das würde Nava Ebrahimi völlig überfordern. Auch als ich den Bachmannpreis gewann, weshalb ich heute hier stehen darf, ging es nicht um mich, ging der Preis nur mittelbar an mich, unmittelbar ging er an den untötbaren Drang des Menschen, sich gegen alle Widerstände hinzusetzen und einen ersten Satz aufschreiben, ohne zu wissen, wohin er führen wird, aber spürend, dass er am Ende irgendwo hingeführt haben wird, dass ein neuer Kosmos entstehen wird in einem Kopf allein, den andere Menschen betreten und erfahren können. Ein Kosmos, aus einem Satz, in einem Kopf allein. Dafür all die Preise, dafür all der Pomp, die samtenen Bezüge und die goldenen Bordüren. Nicht für Sie und auch nicht für mich. 

Jetzt habe ich sogar noch Schiller zugeblinzelt, uff, das war eigentlich das letzte, was ich vorhatte, aber es passt so schön, heute Abend spielen sie hier Maria Stuart, und dass sich der Kreis wunderbar schließt, das dürfte die ein oder andere oder den ein oder anderen vielleicht doch noch ein wenig besänftigen. Kreise besänftigen, Rundes tröstet, vielleicht hoffentlich sogar meine Auftraggeberin und meinen Auftraggeber, denn jetzt, wo bei aller Sprachlosigkeit alles ausgesprochen ist, ist es mir doch ein wenig peinlich, aber ich glaube, selbst Schiller hat mir dank des gut platzierten Programmhinweises verziehen, er hat zumindest einen Fuß von mir genommen und ich kann schon viel besser atmen. 
Und deshalb jetzt noch zwei Sätze aus voller Lunge, ohne die ich das hier nicht abschließen kann: Spätestens, allerspätestens mit dem, was wir in Moria, an allen EU-Außengrenzen, was wir in Afghanistan zulassen, haben wir jeglichen Anspruch auf moralische oder gar zivilisatorische Überlegenheit verwirkt. Bitte schminken wir uns jede Form von Überheblichkeit ab.

Zurück nach oben