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WittgenLive #6 NACHLESE

Im vergangenen Lockdown besuchten Philipp Hauß und Alexandra Henkel die Ausstellung  "Ludwig wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis" im geschlossenen Leopold Museum und berichteten für die 6. Ausgabe von #wittgenlive auf Instagram. Eine Nachlese. 

Verena Gamper, Philipp Hauß
#wittgenlive 

Eine Inszenierungsbegleitende Reise auf Instagram zu ALLES, WAS DER FALL IST.

 

Wittgenstein und die Fotografie als analytische Praxis

Leopold Museum

Am 11. November hat im Leopold eine Ausstellung eröffnet, die pandemiebedingt kurz darauf wieder schließen musste: “Wittgenstein und die Fotografie als analytische Praxis”. Wie begegnen Ludwig Wittgensteins Ideen, wie sie im Museum präsentiert werden, jenen, die auf der Bühne im Akademietheater erlebbar gemacht werden? Philipp Hauß und Alexandra Henkel durften einen Nachmittag im geschlossenen Museum verbringen und sprachen mit Kuratorin Verena Gamper. Eine Nachlese des virtuellen Instagram-Live-Spaziergangs vom 29. November 2021.

Wittgenstein Portrait.
Automatenporträt von Ludwig Wittgenstein, um 1930
© © Sammlung Mila Palm, Wien, Foto: Leopold Museum, Wien/Manfred Thumberger

PH: Verena Gamper, gemeinsam mit Gregor Schmoll haben Sie die Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Fotografie als analytische Praxis kuratiert. Was erwartet das Publikum in dieser Ausstellung?

VG: Die Ausstellung versucht Wittgensteins fotografische Praxis sichtbar zu machen, ein vermeintlicher Nebenschauplatz im Schaffen des bedeutenden Philosophen. Wahrscheinlich haben sich viele gedacht: Wittgenstein und die Fotografie? Was soll denn das? Ist das überhaupt etwas, das man untersuchen kann? Wir zeigen, dass es absolut lohnenswert ist, sich diesen Blick Wittgensteins auf die Fotografie näher anzusehen.

AH: Also haben Sie, genau wie wir, auch eine Art Spurensuche unternommen? Wie sind Sie vorgegangen?

VG: Wir hatten in den letzten Jahren die Möglichkeit, einen forschenden Blick auf das Wittgenstein Archive Cambridge zu werfen, wo der Großteil dessen verwahrt wird, was man als eine Art fotografischer Nachlass des Künstlers titulieren kann. Aus diesem Archivbestand haben wir jene Objekte als Exponate ausgewählt, die im weitesten Sinne eine fotografische Praxis Wittgensteins belegen: Darunter befinden sich Fotos, die er selbst angefertigt hat, aber auch Fotografien, die er beauftragte und solche, die er kommentierte oder die vielleicht gar nicht mehr existieren, aber von denen wir wissen, weil er darüber geschrieben hat. Erweitert haben wir das um seine Ansichtskarten-Korrespondenz, Wittgenstein hat dieses Medium offensichtlich sehr geschätzt und die Bildseite nicht selten direkt im Bild kommentiert.

AH: Die Postkarten habe ich schon vorher beim Durchgehen gesehen. Auf einer Karte aus Mariazell schrieb Wittgenstein: “Du siehst mich hier in der Luft schwebend”

VG: Er schrieb das an seinen Freund Gilbert Pattison. Die beiden hatten eine eigene Art von Humor. Die Kommentare sind wirklich köstlich. Wir haben für die Ausstellung eine Auswahl aus dieser Ansichtskartenkorrespondenz getroffen, die wir aus dem Trinity College als Leihgaben bekommen haben.

PH: Wir befinden uns im ersten Raum der Ausstellung. Mir gefällt, dass hier offenbar dialogisch gedacht wurde. Den Wittgenstein-Exponaten in einer Vitrine in der Mitte des Raumes sind Werke von Katharina Sieverding, Trevor Paglen, Thomas Ruff, Gottfried Bechtold und Manfred Willmann gegenüber gestellt. Die unscharfen Bilder scheinen ein zentrales Thema der Ausstellung zu sein! Das ist mir im Zuge der Beschäftigung mit Ludwig Wittgenstein auch schon aufgefallen. Er fragt ja sinngemäß: Wenn ein Begriff unscharf ist, ist er dann noch ein Begriff, was ist dann ein unscharfes Bild? Ist es auch noch ein Begriff oder löst es sich auf? Ist eine unscharfe Fotografie einer Person überhaupt noch das Bild eines Menschen – weil, die Person selber kann ja nicht unscharf sein!

Wir haben uns ganz bewusst dagegen entschieden die Ausstellung biografisch zu beginnen und den ersten Raum der Ausstellung der Kompositfotografie und der mit ihr ursächlich verbundenen Unschärfe gewidmet.

VG: Wir beginnen mit einem unscheinbaren, kleinformatigen Abzug, 11 x 8 cm groß, den manche vielleicht kennen. Es ist ein Kompositporträt der Geschwister Wittgenstein – ein Werk, das bisher ihm zugeschrieben worden ist, eben weil Unschärfe und Kompositfotografie so relevant sind für den späten Wittgenstein, wenn es um die Konzepte der Familienähnlichkeit und des Sprachspiels geht.

Philipp Hauß, Verena Gamper, Alexandra Henkel, Anne Aschenbrenner
#WittgenLive im Leopold Museum. Philipp Hauß, Verena Gamper, Alexandra Henkel & Anne Aschenbrenner.

AH: Können Sie uns Kompositfotografie erklären?

VG: Die Kompositfotografie ist eine typologisierende Methode, die in den 1870er Jahren vom britischen Forscher Francis Galton entwickelt und die danach international rezipiert und angewandt wurde. Galton hat Fotos von verschiedenen Personen auf eine gemeinsame Negativplatte belichtet, also Teilbelichtungen addiert. Der Zweck des ganzen Unterfangens war, Gemeinsamkeiten fotografisch aufzuzeigen. Das heißt, das Gemeinsame, das Übereinstimmende, das Allgemeine wird sichtbar, während das Individuelle, das Singuläre unsichtbar wird. Schon bei Galton selbst kommt der Begriff der Familienähnlichkeit vor. Übrigens hat auch er versucht, neben dem Typus des Verbrechers oder der Syphiliskranken jenen einer Familie zu generieren aus Vater, Mutter und Kindern. 

PH: Es ist ziemlich exemplarisch, dass man hier ein Foto neu betrachtet und dabei den Begriff Familienähnlichkeit von Wittgenstein in Verbindung dazu bringt und dann gleichzeitig, wenn man sich umdreht, quasi die Aneignung der Kompositfotografie unter anderen technischen Vorzeichen und einer kritischen Reflexion dessen vorfindet.

VG: Das ist im Prinzip der Kern dessen, was wir als Ausstellungskonzept entwickelt haben. Es ist wichtig, dass man eine Ausstellung nicht als ein Buch versteht, das man in die Ausstellungsräume legt, sondern sie sollte zum Sehen und zum Für-sich-selbst-Erschließen einladen. So fungieren die Werke der zeitgenössischen Künstler*innen, die wir in jedem Raum um die zentralen Vitrinen gruppiert haben, als eine Art visueller Verstärker oder als ein Resonanzraum, in dem unterschiedliche Aspekte aufgegriffen werden, wo beispielsweise im Falle der anderen Porträts von Thomas Ruff das Apparative, das Konstruierte der Fotografie in Kombination mit der ihr zugeschriebenen Zeugenschaft thematisiert wird. - Wenn wir nun ein Stück weitergehen sehen wir die Automatenfotos von Ludwig Wittgenstein. Sie sind um 1930 entstanden, hier können wir sie erstmals der Öffentlichkeit präsentieren.

PH: Wie sind denn die gemacht? Gibt's da irgendwelche Tagebucheinträge oder ähnliches?

VG: Nein, es gibt dazu keine Aufzeichnungen. Diese Selbstinszenierungsautomaten, die Photomatons, gab es erst ab 1927 in Europa. Wir wissen, dass die Fotos um 1930 entstanden sind, aber nicht wofür Wittgenstein sie verwendet hat. Sieben dieser acht Fotos sind im Original zu sehen – es waren ja immer Achter-Streifen – das vierte Foto ist leider nicht mehr erhalten, ist uns aber durch die Abbildung in einer Publikation bekannt.

Wir befinden uns jetzt im dritten Raum der Ausstellung, ich sehe hier ein schönes Familienfoto von einem anonymen Fotografen. 

AH: Es zeigt Ludwig Wittgensteins Vater Karl mit seinen zehn Geschwistern, aufgenommen anlässlich der silbernen Hochzeit seiner Eltern, da sitzen sie alle zusammen! Außerdem hängen hier verschiedene Aufnahmen der Familie Wittgenstein.

VG: Genau, beispielsweise sehen wir Ludwig Wittgenstein in Neuwaldegg als Kind, fotografiert 1893. In diesem Raum sind zum Teil Fotografien, die noch nie gezeigt wurden, weil es Neuabzüge von Glasnegativen sind, die wahrscheinlich auch nie entwickelt wurden. Das sind Fotos, die von Johann Viktor Krämer gemacht wurden, einem Künstler, der sich hier des Mediums Fotografie auch dafür bedient hat, um Vorlagen für seine künstlerische Arbeit in anderen Medien zu bekommen. Es sind sehr stimmungsvolle Aufnahmen von Ludwig Wittgenstein als Kind, an dem man aber schon den Blick des Erwachsenen erkennt. Man sieht ihn auch gemeinsam mit seinem Bruder Paul, dem berühmten einarmigen Pianisten.

AH: Und hier, die Schwester Hermine mit den beiden jüngeren Geschwistern. Oder der Vater Karl auf dem Pferd! Gehen wir weiter! Hier sehen wir Fotos des Hauses Stonborough-Wittgenstein. Das kleine Notizbuch, das Wittgenstein als Fotoalbum angelegt hat, kann man hier Seite für Seite digital durchblättern.

VG: Ja, wir haben uns entschieden das Fotoalbum auf diese Weise den Besucher*innen zugänglich zu machen. Man kann es ja leider nicht jedem in die Hand geben... Beim Blättern kann man erkennen, wie Wittgenstein die Fotografien angeordnet hat. Dieses Heft ist bisher nie zur Gänze publiziert worden, es ist auch nicht komplett befüllt, es gibt noch eine ganze Reihe von freigelassenen Seiten. Zumindest der Großteil des Albums dürfte Anfang der 1930er Jahre angelegt worden sein und im Zusammenhang mit seinem Wegzug aus Wien bzw. seiner Rückkehr nach Cambridge stehen. Es ist ein spannendes Kompendium von Fotografien aus unterschiedlichsten Quellen, dem ein Prozess der Selektion und Montage vorausgegangen ist.

PH: Damit haben wir uns auch viel beschäftigt in den Proben für ALLES, WAS DER FALL IST. Mit dem Sagen oder Zeigen und dem Nicht-Sagen. Vielleicht ist unsere Inszenierung auch wie ein visuelles Notizbuch. Es geht nicht darum, dass man eine Narration liefert und sagt, das ist Wittgenstein. Wir wollen eher Erkenntnismomente liefern, an denen man die Gedanken Wittgensteins festmachen kann. Diese Parallele zwischen Theater und Museum, zwischen unserer Inszenierung und eurer Ausstellung, die gefällt mir, da hatten wir denselben Zugang.

Philipp Hauß, Alexandra Henkel, Verena Gamper
#WittgenLive im Leopold Museum. Philipp Hauß, Alexandra Henkel & Verena Gamper.

AH: Jetzt sind wir langsam am Ende angelangt. Was ist denn Ihr Lieblingsstück in der Ausstellung Frau Gamper?

VG: Das ist immer die schwierigste Frage! Aber eine Sache würde ich Ihnen gerne noch zeigen. Das ist für mich ein bisschen wie ein Brennglas, unter dem man Wittgensteins analytischen Blick auf die Fotografie betrachten kann. Es ist das letzte Bild der Ausstellung, man sieht ihn am Totenbett, fotografiert von seinem letzten Lebenspartner Ben Richards am 29.4.1951. An diesem Tag ist Wittgenstein seinem Krebsleiden erlegen. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte er sich bei seiner Schwester Helene in Wien eine Reproduktion einer Zeichnung bestellt, eine Fotografie, die wir hier in der Ausstellung auch sehen. Die Zeichnung wurde 1924, also 27 Jahre vor Wittgensteins Tod, von seiner Schwester Hermine angefertigt und war seit damals im elterlichen Palais Wittgenstein in der heutigen Argentinierstraße im Musikzimmer präsentiert. Sie stellt den Komponisten und Organisten Josef Labor am Totenbett dar. Wittgenstein wünscht sich also wenige Wochen vor dem eigenen Tod eine fotografische Reproduktion dieser Zeichnung und als er sie erhält, beschwert er sich: Sie würde seinen Vorstellungen nicht genügen, das Papier wäre zu glänzend und die Größe nicht stimmig, er verlangte also eine neue Reproduktion, das ging hin und her und schlussendlich, ganz knapp vor seinem Tod, erhielt er dann die für ihn richtige fotografische Reproduktion, kleiner und auf mattem Papier. Diese Suche nach dem perfekten fotografischen Bild einschließlich seiner Materialisierung als Abzug wird mit dieser Geschichte – auch im Hinblick auf die Frage nach der Abbildbarkeit des Nicht-Abbildbaren – auf den Punkt gebracht und belegt ganz gut, dass seine Auseinandersetzung mit Fotografie nichts Beiläufiges war. Er wusste sehr konkret um die ganze Bandbreite an Anwendungsmöglichkeiten und Zuschreibungen der Fotografie, was sie alles kann, was sie alles können sollte oder was sie vorgibt zu können.

PH: Das ist doch ein schönes Schlusswort – vielen Dank, Frau Gamper! Sie kommen bestimmt in unsere Aufführung, wenn wir wieder spielen!

VG: Selbstverständlich!

Philipp Haus(PH) & Alexandra Henkel(AH) im Gespräch mit Verena Gamper(VG).

Philipp Hauß
Philipp Hauß
© (c) Marcella Ruiz Cruz
ALLES, WAS DER FALL IST DEAD CENTRE NACH LUDWIG WITTGENSTEIN

Regie: Ben Kidd & Bush Moukarzel

Mit: Philipp Hauß, Alexandra Henkel, Andrea Wenzl, Tim Werths, Johannes Zirner

Nächste Termine: 07 März im Akademietheater

 

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