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PAUSENLOS IM AUSNAHMEZUSTAND

Stefanie Reinsperger im Gespräch mit Thomas Jonigk
 

Thomas Jonigk: Die Figur des Liliom wird als laut, brutal, ungehobelt beschrieben, als Vorstadtcasanova, Frauenheld oder Strizzi. Was ist er für dich?

Stefanie Reinsperger: Das ist sehr schwer in Worte zu fassen. Ich will Lilioms Verhalten nicht entschuldigen, auf keinen Fall, aber im Probenprozess versuche ich, die Figur aus einer großen Einsamkeit, Leere und Verwundbarkeit heraus zu erzählen: Ich suche Liliom in seiner Angst. Er befürchtet, nicht liebenswert zu sein und als Julie ihm ihre Liebe signalisiert, stößt er diese Gefühle komplett und rigoros von sich weg. Mir scheint, dass er Angst hat, außerhalb des Ringelspiels keinen Platz auf der Welt zu haben. Das soll aus meiner Perspektive nur eine Beschreibung seines Charakters sein und keine Entschuldigung seines Verhaltens: Er ist gewalttätig und er führt eine übergriffige Beziehung mit Julie, natürlich treffen viele der genannten Attribute wie „brutal“ auf ihn zu, aber das beschreibt nicht alles. Ich möchte es dem Publikum mit Liliom nicht leicht machen und deshalb suche ich nach Momenten, in denen er anders ist – und diese Suche macht unglaublichen Spaß. Es gibt sie, diese hellen Augenblicke des Liliom. Aber dann lauert da schon wieder der Abgrund und in den starren wir dann gemeinsam mit ihm hinab in seiner ganzen großen Fürchterlichkeit.

TJ: Ist es trotz dieser Fürchterlichkeit möglich, einen Teil des Weges mit Liliom mitzugehen?

SR: Es gibt in jedem Leben diese Jahrhundertsekunde, da sieht man sich an und sagt „Ja“ zueinander. Was ist es, das die Frauen bzw. die Menschen allgemein so fasziniert an Liliom? Wer ist dieser Mensch, wie wurde er, was er ist? Ich glaube einfach nicht daran, dass ein Mensch von Geburt an böse ist. Er wird durch sein Umfeld, die ihn umgebenden Menschen und das soziale Umfeld geformt. Ein Charakter entwickelt sich − und in Lilioms Fall hat er sich leider auf eine höchst fragwürdige Weise entwickelt. Und das zu verstehen oder darzustellen, ist nicht einfach. Im Gegenteil: Es ist einfach kompliziert.

TJ: Du schreibst in deinem Buch GANZ SCHON WÜTEND: „Auf der Bühne und in meinen Rollen bin ich um so vieles mutiger, starker und abenteuerlustiger als privat. Deshalb ist, glaube ich, jeder Charakter, den ich spielen darf, ein kleines, großes Vorbild für mich. Die sind einfach alle cooler als ich.“ Gilt das auch für den Liliom? Inwiefern kann er ein Vorbild sein?

SR: (lachend) Also, cooler als ich ist er auf gar keinen Fall. Die Rolle allerdings schon: Der Liliom bietet mir einen unglaublichen Spielplatz, weil er so viele Amplituden hat − das macht einfach sehr viel Spaß: Je höher er aufsteigt, desto tiefer fällt er auch. Es ist, glaube ich, das erste Mal, dass es mir als Stefanie Reinsperger schwerfällt, einen Zugang zu so einer Rolle, zu so einem Wesen − einem Monstrum − zu bekommen, weil ich natürlich nicht entschuldigen will und kann, was er tut. Aber womit ich mich total verbinden kann, ist seine Angst und Unfähigkeit sich auf jemanden wie Julie einzulassen, die „Ja“ zu ihm sagt. Für mich geht es in dem Stück ganz stark um die Liebe, die so wundervoll und heilsam ist, nach der man sich sehnt, aber wenn sie dann da ist, dann erträgt man sie nicht, dann weicht man davor zurück. Da kann ich als Spielerin gut andocken.

TJ: Was ist denn die Liebe? Was ist die Liebe in diesem Stück?

SR: In dem Stück liebt der Liliom eigentlich das Ringelspiel und sich selbst als unverzichtbaren Bestandteil des Ringelspiels. Wobei der Liliom in der freien Wildbahn ist ein anderer als der, der mit Julie lebt und Kindsvater wird. Wie aber auch immer: Die Frage nach der Liebe ist zentral im Stück von Molnár: Was heißt Paarbeziehung? Was heißt es, Verantwortung zu übernehmen? Was heißt es, ein Kind zu haben? Normalerweise würden wir in einem Stück erleben, wie jemand dazu lernt und wächst, hier aber haben wir jemanden, der grandios scheitert − und das, obwohl er eine zweite Chance erhält. Er schafft es nicht, über sich hinauszuwachsen, obwohl er glaubt, aus Liebe und Verantwortungsgefühl zu handeln. Vermutlich weiß er nicht, was es heißt zu lieben. Er ist sich und seinem Zustand ausgeliefert.

TJ: Das ist mindestens so traurig wie realistisch. Wir alle tragen bis heute reaktionäre oder unlebbare Beziehungsentwürfe von Eltern, Großeltern oder aus den Medien in uns, obwohl wir auf der Erkenntnis- und Wissensebene womöglich schon viel weiter sind.

SR: Absolut. Was das ist zwischen Liliom und Julie, das ist schwer zu verstehen und wird ja auch von ihrer Umgebung sehr misstrauisch beobachtet. Sie begeben sich beide in einen Strudel der Gewalt und der Sprachlosigkeit. Sie sind pausenlos im Ausnahmezustand, ständig am Rand des Erträglichen. Ich würde ihnen beiden einen Ort wünschen, an dem sie sich wirklich annähern können. Aber vermutlich ist das Diesseits nicht der richtige Ort für sie.

TJ: Du schreibst: „Spielen ist alles für mich. Da darf und muss alles sein.“ Welche Rolle spielt es für dich, dass du diese klassische Männerfigur interpretierst?

SR: Ich habe in den letzten Jahren viele Männerrollen gespielt, das wurde oft auch über das Kostüm und die Maske sehr stark betont. In diesem Fall finde ich es geradezu erlösend, dass das nicht der Fall ist. Ich bin eine Blut-, Schweiß- und Tränenspielerin und im Fall von Liliom will ich einfach alles herschenken − als die, die ich bin. Schonungslos und überbordend. Ich lasse mich voll ein und vergesse, ob ich männlich oder weiblich bin. Der gesamte Prozess ist intensiv und persönlich. Wie hat Isabelle Huppert gesagt: „Ich bin ich. Und die Figur kommt wie ein Unfall.“

TJ: Dennoch würde ich behaupten, dass du als Frau einen völlig anderen Blick auf Männer hast, einen Blick, den ein Mann auf sich selbst vermutlich nicht haben kann.

SR: Ganz sicher. Am meisten merke ich das im Umgang mit meinen Kolleginnen auf der Probe bzw. auf der Bühne. Wie ist der Umgang mit Gewalt? Wir berühren uns anders, wir stellen uns als Frauen untereinander andere Fragen, wir wissen anders umeinander. Das schafft einen sehr spezifischen Raum für Kommunikation und Gemeinschaft.

TJ: Geht es für dich als Spielerin auch darum, Sehgewohnheiten zu verändern? Natürlich kennt die Theatergeschichte das, was wir heute eine Crossgender-Besetzung nennen, schon lange: Männer spielten im Elisabethanischen Zeitalter Frauenrollen und wurden offenbar als glaubwürdig empfunden.

SR: Da Frauen nicht auf der Bühne stehen durften, ist das aber kein Ausdruck spielerischer Freiheit, sondern von Misogynie.

TJ: Natürlich. Auch im Karneval, zum Beispiel, treffen wir schon immer auf Männer, die sich als Frauen verkleiden. Das galt und gilt als komisch und dient letztlich dazu, sich über Frauen lustig zu machen. Der umgekehrte Vorgang – Frauen, die sich als Männer verkleideten – wurde lange Zeit als Anmaßung begriffen. Frauen in Männerkleidern – ich denke an Marlene Dietrich im Frack − duldete man nur, wenn ein erotischer bzw. sexueller Stimulus darin gefunden werden konnte. Wie ist es möglich, sich aus diesen Korsetten der Wahrnehmung und Zuschreibung zu befreien? Spürt man davon etwas auf der Bühne bis heute? Oder anders gefragt: Vermag eine Besetzung jenseits geschlechtsspezifischer Zuordnungen das zu leisten?

SR: Da kommen wir wieder auf die Veränderung der Sehgewohnheiten zurück. Das begleitet mich als Thema grundsätzlich, wenn ich auf die Bühne gehe. Eine Frau wie ich, die aussieht wie ich und auf der Bühne steht und Dinge verhandelt, das reicht schon, um Sehgewohnheiten und klischierte Erwartungen und Vorgaben zu unterwandern. Ich persönlich wollte mich selbst als Frau bzw. als Thema nicht in den Vordergrund stellen, es ist aber im Laufe der Jahre so passiert. Daraus habe ich den Schluss gezogen, dass ich damit arbeite und mich durch das Thema nicht mehr dominieren lasse. Wenn ich auf die Bühne gehe, dann ist das ein politischer Akt. Das gilt natürlich letztlich für alle: Wir dürfen Kunst machen, den Menschen Gedankenanstöße geben, sie wachrütteln oder auch verärgern. Die Fragen, die wir uns heute auf der Probe stellen, das sind natürlich andere als vor zehn oder fünfzehn oder fünfzig Jahren in Bezug auf dieses Stück. Wie erzählt man das heute? Das herauszufinden, da haben wir eine große gesellschaftliche, politische und künstlerische Verantwortung.

TJ: Glaubst du daran, dass Theaterarbeit gesellschaftliche Veränderung bewirken kann?

SR: Für mich war ein besonders schöner und kostbarer Moment, als wir ein Casting für Luisa, die Tochter von Liliom und Julie, hatten. Die Kinder, mit denen ich geprobt habe, habe alle möglichen Fragen gestellt. Aber nicht einmal kam die Frage auf, warum ihr Vater von einer Frau gespielt wird. Das schien überhaupt kein Thema zu sein. Und das macht mir Hoffnung.

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Mit dieser Fabel mögen Witfrauen ihre kleinen Kinder oder brave Kinder ihre alten und müden Eltern in Schlummer wiegen. Das Märchen wird still und fließend erzählt, der Anfang lebhaft, als sei die Fabel wahr, das Ende viel langsamer und leise, damit am Schluß derjenige, dem es erzählt wird, einschläft. – – –

 

I.

In einer Bude des Stadtwäldchens lebte ein gar sonderbarer Mensch. Der hörte auf den Namen Závoczki. Dieser Závoczki war ein Hendelfänger großen Stiles, er ging aller Welt zuleibe, prügelte viele durch, ließ manche das Messer kosten, stahl, betrog, raubte und war trotzdem ein seelenguter Bursch, und sein Weib liebte ihn über alle Maßen. Denn sein Weib war ein einfaches kleines Dienstmädel, das bis zu seinem siebzehnten Lebensjahre bei Juden im Dienste gestanden, und da war es an einem Sonntag beim Ausgang im Stadtwäldchen mit Závoczki bekannt geworden, der eine zweifarbige Hose anhatte: die eine Hälfte gelb, der andere Schaft rot. Im Haar trug er eine Hahnenfeder, von der Feder hing ein Faden herab, das Ende des Fadens stak in seiner Tasche und Závoczki zerrte an dem Faden, daß die Feder auf seinem Schopf wackelte. Darob mußte jedermann lachen und die schönsten Stubenmädchen drängten sich zu dem Ringelspiel, wo Závoczki seinen Schabernack trieb. Die einfältige Magd machte hier die Bekanntschaft mit Závoczki und unterhielt sich mit ihm den ganzen Tag über und, wiewohl sie um zehn Uhr zu Hause hätte sein sollen, ging sie noch um elf Uhr nicht heim, verbrachte die ganze Nacht im Wäldchen, am andern Tag aber getraute sie sich nicht mehr nach Hause. Von da an gesellte sie sich zu dem Federschopf, verdingte sich nie wieder und war so sanft und war so lieb und war ein so hübsches, kleines Mägdelein, daß sie Závoczki ins Matrikelamt führte und heiratete.

Dieser Mensch war der größte Schlingel weit und breit im Stadtwäldchen. Bald war er Ausrufer vor einer Bude, bald lebte er monatelang davon, andere Leute beim Kartenspiel zu übervorteilen. Hatte er was im stillen an sich gebracht, ließ er die Arbeit Arbeit sein, bis das gestohlene Geld alle wurde. Zuweilen setzte man ihn auf einige Tage ins Schubhaus hinter Schloß und Riegel, und dann weinte das Weib den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch, und obwohl sie wußte, daß er aus dem Gefängnis nicht heimkäme, richtete sie dennoch das Bett an ihrer Seite, daß es den Anschein habe, als käme er im Augenblick nach Hause. Aber Závoczki führte sich selbst im Schubhause frech auf, wofür man ihn in eine Einzelzelle sperrte. Die Ärmste schluchzte dann bitterlich und klagte in einemfort: Wie unglücklich bin ich! Wie unselig bin ich!

Zuhause gab es kein Geld und Závoczki schämte sich, daß daheim kein Geld war. Das Herz tat ihm weh, daß das hübsche Weißgesicht von einem Dienstmädchen Brotkrumen zum Abendmahl speisen mußte. Das durfte aber das Weib nicht wissen, darum fuhr er sie streng und barsch an:

»Mußt halt alles Geld verputzen, verdammtes Weibsbild!«

Dann sah ihn das Weißgesicht traurig an und brach fast in Tränen aus. Závoczki aber drohte mit der Faust:

»Heul’ nicht, sonst schlag’ ich dir die Knochen im Leib ein.«

Damit ging er weg, schlug die Tür hinter sich zu, versteckte sich im Hofe und weinte die ganze Nacht hindurch herzbrechend. Das Weißgesicht aber durfte nicht weinen, weil der Federschopf es ihr untersagt hatte, und weil die Weiber sich zurückhalten können. Aber den ganzen Tag über dachten sie aneinander und Závoczki ließ kein Wort darüber fallen. Gewöhnlich pflegte er dann den Hausmeister zu verprügeln oder er stach einen Wachmann in den Rücken und lief davon. Denn er war jähzornig, ein durchwegs verbummeltes Geschöpf, das bereits seit langem für den Galgen reif war.

An einem Sonnabend fiel Regen, und Závoczki saß abseits der Herminenstraße mit einem andern Schlingel am Rand eines Grabens. Sie spielten Karten im Regen. Es dunkelte schon und man konnte die Karten nur undeutlich unterscheiden, übrigens hatte auch der Regen die bunten Figürchen darauf verwischt. Zwar hätte dies Závoczki nicht weiter geniert, kannte er ja die Karten ohnedies von rückwärts, aber es veranlaßte den anderen Gentleman, das Spiel abzubrechen.

»Ich danke, mein Herr,« sagte der andere und kroch aus dem Graben.

»Das schickt sich nicht,« rief Závoczki. »Umsonst habe ich betrogen, du hast mir das ganze Geld abgefäckelt. Spiel’ weiter!«

Aber der andere berief sich auf den Regen und daß es bereits Nacht sei und er gäbe ihm morgen bereitwilligst Revanche. Damit lief er von dannen, rasch wie ein Pfeil. Es klatschte gar mächtig, wie er barfüßig durch den Kot rannte.

Da nahm Závoczki das Küchenmesser hervor und ging weiter über die Franzosenstraße hinaus bis an den Damm der königlich ungarischen Staatsbahnen. Dort pflegte Herr Linzmann, der Kassier der Lederfabrik, der jeden Samstag Abend den Arbeitern die Löhnung hinausträgt, vorbeizukommen. Er duckte sich hinter dem Damm der königlich ungarischen Staatsbahnen und harrte auf Herrn Linzmann, um ihn anzufallen und ihm das Geld abzunehmen. Aber er wartete vergeblich. Es fiel ihm ein, daß er sich verspätet hatte. Herr Linzmann hatte das Geld bereits an die Leute verteilt, ja er war schon mit der leeren Tasche in die Stadt zurückgekehrt. So ein verfluchtes Ding ist das Kartenspiel. Dabei vergißt man seine wichtigsten Angelegenheiten.

Da kroch Závoczki auf den Damm der königlich ungarischen Staatsbahnen, über sein schmieriges Gesicht rannen zwei dicke Tränen, plötzlich erbleichte er, lächelte dann, rief: »Julie Zeller! Julie Zeller!« – so hieß nämlich sein Weib – und das Küchenmesser mit beiden Fäusten erfassend, kehrte er es gegen seine Brust und stieß es in sein Herz. Er verschied auf der Stelle, rollte den Damm der königlich ungarischen Staatsbahnen hinab, in der Tasche ein Paket schmieriger Karten und drei weiße Beinkugeln, die er als Jongleur benützte, in seinem Schopf die Hahnenfeder, auf den Lippen aber den Namen des kleinen, sanften Dienstmädels: Julie Zeller! Julie Zeller!

 

II.

Man verscharrte Závoczki im Graben, aber Gott bewahre, daß der Erzbischof von Gran die Leichenrede über seinem Grab gehalten hätte. Doch war da sein Weib, in schwarzem Kleid, das sie sich bei Nacht zurecht genäht hatte. Alle im Hause trösteten das Weißgesicht, indem sie sagten Gottes Gnade ist unermeßlich, er befreit die gequälten Dienstboten von ihren Tyrannen, ihr seid noch jung, er ruhe in Frieden, aber es ist besser so, Gott ist groß, ihr seid noch jung. Und Julie nickte, gab mit ihren traurigen Augen den Nachbarn recht, sagte sogar: »Dank’schön, Frau Hausmeisterin, sie sind sehr gut zu mir, Frau Braun, dank’schön, Frau Braun, dank’schön, Frau Stufenberg, alle Leut’ sind sehr gut zu mir, dank’schön, Frau Braun.« Ja, was noch mehr bedeuten will, sie sagte: »Sie haben recht, Herr Kommissär, es ist besser so, Gott hab’ ihn selig.« Denn Julie schämte sich vor dem Wachmann, daß sie einen Spitzbuben, wie Závoczki, noch über seinen Tod hinaus liebte, ohne jeglichen Grund, was gewiß eine Schande ist. Und bereits am Tage nach der Beerdigung begann sie an dem Kinderkleid zu nähen, denn es war so, daß sie im folgenden Monat ihrer Niederkunft entgegensah.

Závoczki aber wurde am Nachmittag in die Gratiserde versenkt, wo er nur bis zum Abend blieb. Wer das Reglement kennt, der weiß auch, daß jeden Abend beim Polizeiamt der grüne Wagen vorfährt und diejenigen ins Schubhaus überführt, die von den eifrigen Wachleuten den ganzen Tag über am Polizeiamt angesammelt werden. Ebenso fährt jede Nacht ein mächtiger grüner Wagen am Friedhof vor, um die Kerle fortzubringen, die Hand an ihr Leben legten. Diese gelangen nicht gleich in die Hölle, die müssen erst ins Fegefeuer. Dort wird untersucht, was sie dazu gebracht, und wie die Chose steht, Denn auch von ihnen kommen so manche ins Paradies.

Also setzte sick Závoczki mit den übrigen in den grünen Wagen, das große Messer im Herzen. An seiner Seite saß ein Wassermensch, der war durchgewässert, weil er sich in der Donau ertränkt hatte. Ihnen gegenüber saß ein Frauenzimmer, mit einem Strick um den Hals. Es war ein armes Weib, das sich erhängt hatte. Den anderen sah man nichts an. Die hatten kleine Kügelchen im Leibe, die sie in ihren Leib geschossen. Der Wagen fuhr sie hinaus. Er humpelte auf der Landstraße dahin und tauchte in der Richtung des Gefängnisses in die Dunkelheit hinein. Man fuhr und fuhr solange, bis es zu dämmern anhub. Da fingen die Pferde plötzlich zu laufen an, rannten dann in gestrecktem Lauf vorwärts. Závoczki blickte durch ein Loch hinaus, und sah, daß der Wagen einen sehr breiten Weg heruntersauste, in ein Tal, über dem ein rosenfarbiger Nebel lag. Der Wagen flog bereits, die Räder drehten sich in der Luft, Städte, Ortschaften verschwanden unter ihnen, aber all dies tat Závoczki nicht mehr weh, denn darum eben stak das Messer in seinem Herzen, daß er von nun an allen Schmerz vergesse.

Da hielt der Wagen. Einer nach dem andern stieg aus und Wachleute geleiteten sie in ein mächtiges Amt. Sie mußten im Vorzimmer verweilen, das Rauchen war verboten, und viele spuckten aus und doch roch es nach Tabak. Dann kam ein bebrillter Amtsdiener heraus und rief sie der Reihe nach beim Namen. Schließlich wurde auch Závoczki vorgelassen.

»Wie heißen Sie?« fragte der Beamte, ohne von dem mächtigen Papierbogen, dessen Rubriken er ausfüllte, auszusehen.

»Andreas Závoczki.«

»Wie alt sind Sie?«

»Achtunddreißig.«

»Ihr Geburtsort?«

Darauf antwortete Závoczki nicht. Der Beamte blickte ihn noch immer nicht an. Er sagte: »Geburtsort unbekannt?«

Závoczki nickte bejahend. Jetzt erst blickte der Beamte auf:

»Es steht Ihnen frei, für einen Tag zurückzukehren, wenn Sie irgendwas im Leben vergessen hätten. Wer von selbst stirbt, wie es sich geziemt, braucht nicht zurückzukehren, denn er hat unten nichts auszurichten. Wer aber zum Selbstmörder wird, der stirbt nicht von selbst, so vergißt er manchmal irgendwas, und verursacht dadurch Leid auf Erden. Antworten Sie mir.«

Und er schaute ihm strenge ins Gesicht, wie man es mit einem Selbstmörder zu tun pflegt. Závoczki erwiderte:

»Ich habe vergessen, die Geburt meines kleinen Kindes abzuwarten. Nachher reute es mich, so vorschnell gehandelt zu haben, denn ich hätte es gerne gesehen. Nun aber ist es bereits zu spät. Das ist sehr traurig, aber ich bin ein Mann, und wenn ich einmal fortgegangen, so dank’ ich schön, da bleib ich schon hier.«

Damit warf er sich stolz in die Brust, blickte dem Beamten trotzig ins Gesicht, wobei seine Augen funkelten, wie das Küchenmesser, das ihm im Herzen stak.

»In den Kerker mit dir, herzloser Wicht,« rief der Beamte aus und die Wachleute faßten Závoczki an und schleppten ihn in den Kerker. Závoczki aber lachte sie auf dem Weg aus, das Messer im Herzen, und schüttelte seinen Kopf, indem er sagte: »Spitzel seid ihr, Polypen seid ihr, Spitzel, Spitzel, fangt ihn.«

Da versetzten die Wachleute Závoczki Fußtritte, indes der eine den Griff des Messers festhielt, auf daß es nicht herausfalle.

 

III.

Sechzehn Jahre lang saß Závoczki im Fegefeuer. Es ist nicht wahr, daß das Fegefeuer brennt. Das Fegefeuer ist nichts anderes, als eine sehr intensive, rosige Helligkeit, worin man eine lange Reihe von Jahren hindurch sitzen muß, bis sie die schlimmen Gewohnheiten im Menschen aufsaugt. Závoczki gewöhnte sich mit der Zeit an die Helligkeit und fühlte sich geläutert. Er schmiedete bereits allerlei Pläne, denn sein Herz war geläutert, und er hätte schon gerne sein Kind gesehen, von dem er nicht einmal wußte, ob’s ein Bub oder ein Mädel war. Als daher der Konzipient einst durch das rosenfarbige Feuer spazierte und die Leute befragte, ob sie gegen das Personal irgendwelche Beschwerden vorzubringen hätten, meldete sich Závocki zum Wort:

»Bitt’ schön, gnädiger Herr,« sagte er, »steht mir noch das Recht zu, auf einen Tag zurückzugehen?«

»Ja,« sagte milde der Konzipient, denn wer solange im Feuer sitzt, wird höflicher behandelt. »Melden Sie sich.«

Závoczki ließ sich am nächsten Tage melden. Der Konzipient überreichte ihm einen kleinen Zettel, worauf geschrieben stand, er hätte einen vierundzwanzigstündigen Urlaub erhalten. Damit führte man ihn in den Keller und zog ihm das Messer aus dem Herzen. Dafür bekam er eine Garderobenummer, die er in die Tasche stecken mußte, und er machte sick auf den Weg, wanderte und ruhte nicht eher, bis er bei der Neupester Jutefabrik anlangte. Dort fragte er artig an, wo die Witfrau Závoczki wohne, die in der Fabrik arbeite. Man gab ihm die Adresse und er machte sich auf die Suche.

Sein Weib wohnte in einem kleinen Arbeiterhäuschen, davon sechs nebeneinander standen, alle ganz gleichförmig. Es war Sonntag Vormittag und die Sonne schien. Das Weib war noch immer das kleine Dienstmädel mit dem Weißgesicht, sie sah nur ein wenig gealtert aus. Závoczki hatte sie sofort erkannt, denn sie saß am Fenster und nähte. Auf dem Fenster standen zwei Blumentöpfe mit ordinären Blumen und dahinter bauschte sich ein kleiner Vorhang. Vor dem Vorhang aber gab’s noch Raum genug, so daß die Frau von außen unschwer zu erkennen war. Ihr Gesicht war milde und ernst.

Závoczki klopfte an die Tür. Darauf öffnete sich die Tür und ein junges Mädchen trat auf die Schwelle hinaus. Es mochte sechzehn Jahre alt fein und der Mann erkannte sofort, daß es seine Tochter war. Das Mädchen fragte strenge:

»Was wollen Sie?«

Závoczki bedeckte mit der linken Hand die Stelle seines Herzens, damit das Mädchen das Loch im Rock nicht wahrnehme. Dann war es ihm, als könne er jetzt wieder gehen, da er seine Tochter gesehen. Er mußte aber etwas vorschützen, weil ihn das Mädchen nach seinem Begehr fragte. Er langte daher mit seiner rechten Hand in seine Tasche und holte daraus die drei weißen beinernen Kugeln hervor, womit er früher sein Publikum unterhalten hatte.

»Ich… bitt’schön,« kam es über seine Lippen, »ich kann gar schöne Kunststücke.«

Und er grinste, um seine Tochter lachen zu sehen. Aber das Mädchen lachte nicht. Es war ein strenges und ernstes Mägdelein wie die Mutter. Sie sagte:

»Schau’n Sie, daß Sie abfahren,«

Damit streckte sie die Hand nach der Klinke aus, um vor dem bettelhaften Bursch die Tür zu schließen. Sie hatte feine, weiße, zarte Händchen. In diesem Augenblick stieg in ihm der ganze Zorn aus, den das Feuer von sechzehn Jahren gelöscht hatte. Gleich einer hochgehenden See stieg Bitterkeit in ihm auf. Und er schlug auf die zarte, weiße Hand, die im Begriff war, die Tür vor seiner Nase für ewig zu schließen. Das Mädchen warf einen Blick auf ihn, griff von neuem nach der Klinke und schloß die Tür. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Závoczki blieb draußen. Sein Zorn war verraucht, und er schämte sich über alle Maßen, sein Kind geschlagen zu haben. Er schaute verlegen umher und fühlte einen brennenden Schmerz im Herzen. Da machte er sich eilig auf den Rückweg. Er wußte selber nicht, wo und wohin er ging. Doch die Verstorbenen kennen keinen anderen Weg, als zurück in den Tod.

Es war tief in der Nacht, als er an das weite Gebäude kam, woher er ausgegangen. Dort wußte man bereits von allem. Der Torwart grinste ihn aus seiner Nische an. Er ließ den Kopf hängen und schritt wortlos ins Stockwerk hinauf, wo er sich melden mußte. Der Konzipient harrte seiner bereits. Man nahm ihm die Garderobenummer weg und drückte ihm sein Messer in die Faust. Der Beamte donnerte ihn an:

»Scheusal von einem Menschen! Hat nichts Eiligeres zu tun, als sein eigenes Kind zu schlagen.«

Er sagte kein Wort. Man tat das Messer in sein Herz zurück, da seufzte er tief auf. Dann wurde er angefaßt, auf einen kleinen, eisernen Wagen gesetzt und hinunter in die Hölle gerollt. So rollte Závoczki aus dem rosafarbigen Feuer ins rote Feuer, wo er bis ans Ende der Zeiten sieden und heulen wird vor Schmerz. Das geschah mit Závoczki.

Sein kleines Töchterchen aber ging in die Stube zur Mutter.

»Ein zerlumpter Bettler war da,« sagte sie. »Er hatte ein so garstiges Gesicht, daß ich im Begriffe war, die Tür vor seiner Nase zuzuschlagen. Da loderte ein wildes Feuer in seinen Augen auf. Seine Augen weinten, mit dem Gesicht lachte er. Im will gerade die Tür zuschließen, schlägt er mir auf die Hand. Heftig, daß es nur so klatschte.«

Das Weib blickte zur Erde nieder, als suchte es etwas. Dann fragte sie mit bebender Stimme: 

»Und dann?«

»Dann ging er fort. Mir graut noch jetzt vor ihm. Er schlug mich heftig auf die Hand, aber es schmerzte mich nicht. Als ob mich jemand mit leisen Fingern gestreichelt hätte. Seine schwielige, rauhe Hand fühlte sich an, als wären es Lippen gewesen oder ein Herz.«

»Ja, ja,« sagte mit sehr leiser Stimme das Weib und nähte weiter.

Sie sprachen aber von alldem niemals wieder und lebten, bis sie starben, und damit ist auch das Märchen zu Ende.

Schlaf, mein Töchterchen.

ZUR INSZENIERUNG
von Ferenc Molnár
Regie: Philipp Stölzl

Mit: Zeynep Buyraç, Norman Hacker, Franziska Hackl, Stefko Hanushevsky, Fabia Matuschek, Robert Reinagl, Stefanie Reinsperger, Maresi Riegner, Dunja Sowinetz, Tilman Tuppy, Sebastian Wendelin
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