DIE KRISE IST NOTWENDIG

Stefan Bachmann im Gespräch mit Jeroen Versteele

Inszenierungsfoto
© Tommy Hetzel

Jeroen Versteele: Wajdi Mouawad ist kein Unbekannter für dich, du hast schon seine Stücke VERBRENNUNGEN und VÖGEL inszeniert. Welche Bedeutung hat er für dich?

Stefan Bachmann: Wajdi Mouawad steht für mich für eine Form von Mut. Er ist ein Autor, der sich nicht vor Pathos fürchtet. Er macht eine Art „Hollywood-Theater“ – nicht im Sinne von oberflächlich oder süßlich, sondern eher im Sinne von gekonnt, dramaturgisch elaboriert, ausgeklügelt. Seine Geschichten sind packend, berührend, aber auch lustig, einfach mitreißend. Sie sind immer das große, ganze Leben. Ich spüre seine Freude am Plot, am theatralen Moment, an der dramatischen Wirkung, an der Überraschung, an der Verwandlung, an der Raffinesse.

JV: Was sind seine wichtigsten Themen?

SB: Flucht. Die erlebte Gewalt, das Verarbeiten von Kriegstraumata. Dann auch Beziehungen, familiäre Bande jenseits der Genetik. Es gibt viele Patchwork-Familien in seinen Stücken und Verbindungen über die Grenzen von Sprachen, Nationalitäten und Religionen hinweg. Wie können sich Menschen trotz ihrer Unterschiedlichkeit begegnen, miteinander klarkommen?

JV: Flucht bringt immer Veränderung mit sich, Neuanfänge, Schicksalsschläge. 

SB: Und das damit verbundene Gefühl der Entfremdung. Mouawads Figuren suchen nach ihrer Vergangenheit, sie forschen danach, woher sie kommen. Dabei erleben und erkennen sie ganz viel Ungeahntes, entdecken die Abgründe in ihren Vorgeschichten. Und am Ende kommen sie bei ihrer Suche bei sich selbst an, wie Ödipus. 

Wir alle erfahren unsere Leben als etwas, das nicht geradlinig verläuft.

JV: DIE WURZEL AUS SEIN basiert auf Wajdi Mouawads Leben. Der Autor spielte bei der Uraufführung in Paris selbst die Hauptfigur Talyani. Warum ist das Stück trotzdem auch für jene interessant, die keine Wurzeln im Libanon oder Fluchtbiografien haben? 

SB: Ich kann die Motive, die in einer zugespitzten und drastischen Form aufgrund dieser Exilanten- oder Flüchtlingsgeschichte entstanden sind, auf jedes Leben anwenden: Wir alle erfahren unsere Leben als etwas, das nicht geradlinig verläuft. Brüche und traumatische Erlebnisse sammeln sich an, denen wir uns stellen müssen. Das gelingt uns nicht in dem Moment, in dem das Trauma uns begegnet, sondern erst viel später, wenn wir uns mit der eigenen Biografie und den ganzen Unebenheiten, die sie mit sich bringt, auseinandersetzen.

JV: DIE WURZEL AUS SEIN beschäftigt sich im Grunde mit der Frage „Was wäre, wenn ...?“

SB: Diese Frage kennen wir alle, nur geht Mouawad sehr weit in der Fantasie. Er hat die Frage auf seine eigene Biografie bezogen und in allen möglichen Konsequenzen auf die Spitze getrieben. Die fünf Versionen Talyanis scheinen auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Menschen zu sein. Aber dann merkt man, dass jeden einzelnen dieser fünf Talyanis die Vergangenheit einholt, und ihn in eine Lebenskrise stürzt. Am Ende verschmelzen alle Talyanis zu einer Figur.

Die Krise ist notwendig dafür, dass es überhaupt so etwas wie Hoffnung gibt.

JV: Diese fünf Talyanis sind kaputte, gestörte, deprimierte, unerfüllte Menschen. Sind die Zersplitterung des Individuums und die Depression im Stuck prägnanter dargestellt oder im Gegenteil die Hoffnung und die Möglichkeit der Heilung, die zum Schluss immer wichtiger wird?

SB: Beides ist ganz wichtig. Die Krise ist notwendig dafür, dass es überhaupt so etwas wie Hoffnung gibt: Alle fünf Talyanis müssen eine Krise durchlaufen, damit sie geläutert daraus hervortreten können wie nach einer Katharsis im klassischen Sinne. Diese Schockmomente, die wir aus der griechischen Tragödie kennen, sind bei Wajdi Mouawad sehr präsent. Er variiert sie auf eine moderne Weise, aber, und das kenne ich von ihm noch nicht in dieser Art und Weise, er beschreibt die Katharsis auch im religiösen, christlichen Sinne. Das Stück erzählt auch von Wiedergeburt. Die religiösen Anspielungen sind vielfältig, unterschiedliche Positionen existieren nebeneinander. Alle Figuren haben aus ihrer Perspektive recht.

JV: Für die Hoffnung ist die junge Generation zuständig, ob es jetzt Talyanis Kinder sind oder die Aktivistinnen oder der junge Dokumentarfilmer, der sich mit dem Mörder seiner Eltern treffen mochte.

SB: Es gibt einen großen Leidensdruck bei denen, die eigentlich gar nicht „schuld“ an den ganzen Geschichten sind, sondern die ausbaden müssen, was die Älteren angerichtet haben. Die Kinder haben viel zu tragen, sie sind in einer fatalen Situation, aber sie sind tapfer und stellen sich alle auf ihre Weise den Aufgaben, die ihnen ihr Schicksal aufgetragen hat: die Aufarbeitung des Verlassen-worden-Seins vom Vater, der häuslichen Gewalt in der Familie bis hin zum Inzest. Es stellt sich die Frage, ob es denkbar ist, nach den schwersten Verbrechen zu vergeben.

JV: Wie hilft dir die Bühne, dieses sich verwandelnde Labyrinth, beim Erzählen dieser Geschichte?

SB: Eine Bühne von Olaf Altmann ist immer ein wandelndes Paradox. Sie ist eine große Herausforderung, eine Knacknuss, ein Sprung durch einen brennenden Reifen. Sie hilft einem vermeintlich nicht, macht einen aber frei von einem zu kleinteiligen, zu realistischen Denken. Und dann merkt man beim Proben, dass sich in ihrer abstrakten Form unglaubliche theatrale Möglichkeiten finden lassen. Man wird vielleicht über diese Aufführung sagen, dass sie realistische, filmische Aspekte hat. Und das stimmt auch, nur lassen wir die filmischen Assoziationen mit ureigenen, theatralischen Mitteln entstehen. Es ist pures Theater.

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