DIGITALES PROGRAMMHEFT DIE URLESUNG: BURGTHEATER. POSSE MIT GESANG

Ein Überblick zu Stück & Skandal und Elfriede Jelinek & Milo Rau im Gespräch

In Österreich gilt offenbar die Regel: Die gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, von denen alle wissen, regen niemanden (mehr) auf. Wirkliche Aufregung verursachen nur Texte, die niemand wirklich kennt. Siehe Thomas Bernhards HELDENPLATZ. Siehe auch: Elfriede Jelineks BURGTHEATER. Wie konnte Anfang der 1980er Jahre, noch vor der Waldheim-Affäre, aus einem Stück, das kaum jemand gelesen hatte, der größte Theaterskandal der zweiten Republik werden? Warum wurde die damals junge Autorin als „Nestbeschmutzerin“ diffamiert, weil sie darauf hinwies, dass der österreichische Theater- und Filmstar Paula Wessely unter dem und für das Nazi-Regime eine ganz und gar fragwürdige Rolle gespielt hatte? 

Hier begrüßen wir Sie mit einem digitalen Programmheft zu DIE URLESUNG: BURGTHEATER. POSSE MIT GESANG, die am 08. Mai im Vorfeld von Elfriede Jelineks BURGTHEATER in einer Inszenierung von Milo Rau zu sehen war. Sie finden an dieser Stelle einen Überblick zu Stück & Skandal sowie ein kurzes Gespräch zwischen Autorin & Regisseur: "Ich habe die ganze Zeit über nur hysterisch gekichert." Den Stream können Sie noch bis zum 15. Mai kostenlos nachsehen.

„Obwohl 1985 kaum jemand mein Stück „Burgtheater“ gekannt hat (es wurde nur in Bonn uraufgeführt), habe ich meinen guten Namen in Österreich verloren.“ – Elfriede Jelinek ist inzwischen als Nobelpreisträgerin weltberühmt. „Burgtheater“ hingegen, ihre „Posse mit Gesang“ über nationale Selbstinszenierungen und wendig wandelbare Publikumslieblinge wie Paula Wessely, Attila und Paul Hörbiger kennt immer noch kaum jemand. 40 Jahre lang hatte Jelinek die Aufführungsrechte gesperrt. 
Wenige Tage vor der überfälligen BURG-Premiere präsentiert das Ensemble von Milo Raus BURGTHEATER-Inszenierung nun in einer „Urlesung“ den gesamten Stücktext, eine Entdeckung. 

Kaum jemals zog Elfriede Jelinek derart gnadenlos alle komödiantischen Register; nie davor und danach war sie etwa so nah an Sprachwitz und -gewalt von Ernst Jandl und der Wiener Gruppe, wenn ihre Kunstsprache Heurigen-Lieder, Wien-Film-Dialoge oder Burg-Klassiker wie „König Ottokars Glück und Ende“ bis zur Wiedererkennbarkeit verfremdet: „Drum ist der Österreicher sang und klank, / trägt seinen Fehl, trägt offen seine Greubeln. / Bekleidet nicht, läßt lieber sich besteigen. / Und was er tut, ist froher Wuts getan.“

DIE CHRONIK DES SKANDALS

Chronik des Skandals um Burgtheater von Elfriede Jelinek

31.3.1981: Elfriede Jelinek äußert sich in einem Interview mit der Neuen Kronen Zeitung zu ihrem Theaterstück BURGTHEATER, einer „ganz böse[n] Posse“: „Ich glaube nicht, daß man das Stück in Wien oder sonstwo in Österreich spielen kann.“ Im Falle einer Aufführung in Wien würde das – so Jelineks Annahme – zum „größte[n] Theaterskandal der Zweiten Republik“ führen. 

1982: BURGTHEATER wird in der Grazer Literaturzeitschrift manuskripte erstmals veröffentlicht – allerdings ohne „Allegorisches Zwischenspiel“. 

1984: Das „Allegorische Zwischenspiel“ wird in der Grazer Literaturzeitschrift Sterz erstmals veröffentlicht. 

12.4.1984: Jelinek erhält den Würdigungspreis für Literatur des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kunst. Ihre Rede aus Anlass der Preisverleihung trägt den Titel DANKIM ZEICHEN DER SOLIDARITÄT: „Kulturschaffende der Avantgarde haben es in Österreich ja keineswegs immer leicht gehabt. Es gab Anfeindungen und Schmähungen – es kam zu Emigration, es kam zu Selbstmorden.“

10.11.1985: BURGTHEATER wird an den Bühnen der Stadt Bonn in der Inszenierung von Horst Zankl uraufgeführt – unter großer medialer Aufmerksamkeit. Es folgt eine heftige Kontroverse in der österreichischen Presse, die Jelinek den Ruf einer „Nestbeschmutzerin“ einbringt. Jelinek wird attackiert und u. a. mit den Vorwürfen des Hasses, der „Österreich-Beschimpfung“ (Neue Kronen Zeitung), der „Idol-Zertrümmerung“ (Neues Volksblatt), der „Hexenjagd“ (Die Presse), des „Rufmordes“ (Die Presse), der Verleumdung und der Geschichtsfälschung konfrontiert. 

14.11.1985: Ursula Pasterk, Intendantin der Wiener Festwochen, ist an einem Gastspiel der Uraufführungsproduktion interessiert. „Voraussetzung, daß die Festwochen das Stück zeigen, ist Qualität, die eine inhaltliche Auseinandersetzung garantiert. […] Nur eines Skandales wegen würde ich das Stück nicht spielen! Ich überlege noch!“ (Neue Kronen Zeitung)

22.11.1985: Elisabeth Orth, die älteste Tochter von Paula Wessely und Attila Hörbiger, bringt sich in der Wochenzeitung Die Furche in die Debatte um Burgtheater ein: „Vielleicht entsteht […] aus diesem Sturm der Entrüstung und Schadenfreude, der Denunziationslust und der Ahnungslosigkeit unserem Beruf gegenüber durch dieses Stück eine klärende Diskussion, die dem momentanen Zustand dieses Landes gut anstünde.“

25.11.1985: Paula Wessely äußert sich in der Zeitschrift profil zu BURGTHEATER und zu ihrer Rolle im Nationalsozialismus: „Ich will mich nicht mit dem Stück der Frau Jelinek auseinandersetzen, werde es aber sicher nicht verbieten lassen. Wohl aber setze ich mich mit der Rolle auseinander, die ich damals in der NS-Zeit gespielt habe: Ja, es tut mir leid, daß ich damals nicht den Mut gefunden habe, zurückzuweisen, daß sich dieses Regime mit mir brüstet; daß ich nicht den Mut gefunden habe, die Dreharbeiten zu HEIMKEHR einfach abzubrechen. Vielleicht habe ich aber doch einiges von dem wiedergutgemacht, indem ich konkreten Menschen, jüdischen Kollegen und Freunden, in dieser Zeit konkret geholfen habe.“

25.11.1985: Zwei Tage nach dem 50. Hochzeitstag von Paula Wessely und Attila Hörbiger nimmt Elisabeth Orth im profil erneut Stellung zu Jelineks BURGTHEATER und der Rolle ihrer Eltern im Nationalsozialismus: „Ich habe BURGTHEATER gelesen. Ganz. Habe mich über weite Strecken interessanterweise dabei gelangweilt. Zog neidvollst meinen Hut vor der Sprachbehandlung. Ich bin nicht dagegen, daß diese Posse mit Gesang auch auf Wiener Boden zur allgemeinen Volksbelustigung zugelassen wird. Auch die skandallüsternen Damen und Herren der Presse und des ORF sollen um Himmels willen nichts verdrängen müssen. […] Die eklatante Verfälschung der Biographie Paul Hörbigers in Jelineks Stück sollte ein gerichtliches Nachspiel haben. Der Rest der Familie verzichtet auf gerichtliche Schritte.“ Von einem erzwungenen Verbot des Stücks sieht Elisabeth Orth ab: „Die Schuld, die Jelinek wegen solcher überflüssiger Verletzungen verantworte, sei vernachlässigbar klein neben der Schuld, die die Eltern durch ihr überflüssiges Sich-zur-Verfügung-Stellen während des Dritten Reichs auf sich geladen haben.“ (profil)

25.11.1985: Achim Benning, Direktor des Burgtheaters, lehnt es „aus inhaltlichen wie ästhetischen Gründen“ ab, BURGTHEATER zu zeigen. „[Es] brauche […] nicht erst eine Bonner Posse mit Gesang, damit sich das Burgtheater auf seine eigene verdrängte Vergangenheit besinnt.“ (profil)

1.12.1985: Simon Wiesenthal äußert sich in der Neuen Kronen Zeitung „zum ‚Fall‘ Hörbiger“: „Konkret zu Paula Wessely und Attila Hörbiger: In den ersten drei Jahren nach 1945 war Zeit, Platz und Wissen, reinen Tisch zu machen, ein für allemal. Das wäre damals eine Frage der gesellschaftlichen Hygiene gewesen. Heute aber, nach vierzig Jahren, diese beiden Menschen zu ächten, ist – deplatziert. Zumal Herr Hörbiger und Frau Wessely hinlänglich bewiesen haben, daß sie sich von der Nazi-Ideologie gelöst haben. Und Verbrecher sind sie schließlich nie gewesen …“ 

5.2.1986: Der Kommunistische Kulturkreis Wien veranstaltet einen Schwerpunktabend zu Burgtheater, in dessen Rahmen Jelinek ihr Stück und dessen Skandalisierung durch die Presse kommentiert. „Auf die Frage, ob man das Stück nicht in Österreich aufführen könnte, antwortete sie: ‚Wenn, dann nur im Burgtheater. Es muß dorthin, wo es weh tut.‘“ (Volksstimme)

1986: BURGTHEATER erscheint in einem Sammelband österreichischer Theaterstücke bei Henschel. In der Kritiker:innenumfrage der Zeitschrift Theater heute wird Jelinek für BURGTHEATER zur „Dramatikerin des Jahres“ gewählt. 

2.12.1986: Jelinek wird mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede, die großes mediales Echo in Österreich auslöst, heißt es: „In den Waldheimen und auf den Haidern dieses schönen Landes brennen die kleinen Lichter und geben einen schönen Schein ab, und der schönste Schein sind wir. Wir sind nichts, wir sind nur was wir scheinen: Land der Musik und der weißen Pferde. Tiere sehen dich an: Sie sind weiß wie unsere Westen. Und die Kärntneranzüge zahlreicher Bewohner und ihnen gehöriger Politiker sind braun und haben große Taschen, in die man einiges hineinstecken kann. So, gut getarnt, sieht man sie in der dunklen Stammtisch-Nacht nicht allzu deutlich, diese mit dem Geld und allen übrigen deutschen Werten befreundeten Politiker und deren Bewohner […].“

20.1.1987: Festvorstellung im Akademietheater zum 80. Geburtstag von Paula Wessely. Burgtheaterdirektor Claus Peymann hält eine Gratulationsrede: „Ich habe mich […] gefreut, in den letzten Tagen in den Zeitungen und im Fernsehen ein Menschengesicht zu sehen, das Gesicht eines Künstlers, Ihr Gesicht. Die Künstler sind es, die diese Gesellschaft eigentlich bestimmen. Das Menschengesicht, das Menschenbild und auch die Hoffnung auf den Menschen der Zukunft, auf die Utopie finde ich in einem solchen Künstlergesicht. Ich bin dankbar, Ihnen das sagen zu dürfen.“

23.10.1987: Paula Wessely wird zur Doyenne des Burgtheaters ernannt.

 

Quellen: 

Sabrina Weinzettl: Die 1980er Jahre in Österreich. Chronik der Ereignisse. In: Pia Janke / Teresa Kovacs / Christian Schenkermayr (Hg.): Elfriede Jelineks Burgtheater – Eine Herausforderung. Wien: Praesens Verlag 2018, S. 29–40. 

Bettina Chybiorz / Christian Schenkermayr: Chronik des Burgtheater-Skandals. In: Pia Janke / Teresa Kovacs / Christian Schenkermayr (Hg.): Elfriede Jelineks Burgtheater – Eine Herausforderung. Wien: Praesens Verlag 2018, S. 419–438.

Die Chronik hat Markus Edelmann für Sie zusammengestellt.

Milo Rau & Elfriede Jelinek: Ein Gespräch

"Ich habe die ganze Zeit nur hysterisch gekichert“

Milo Rau: Du hast BURGTHEATER Anfang der 80er geschrieben und veröffentlicht. Nach der Uraufführung in Bonn 1985 gab es einen gewaltigen Skandal, und du hast das Stück für weitere Aufführungen gesperrt. Was ist damals passiert?
Elfriede Jelinek: Ja, ein Skandal war es, und zwar ohne daß die Leute das Stück gekannt hätten. Es wurde ja in Bonn uraufgeführt, und es war nur in den "manuskripten" abgedruckt, die eine Literaturzeitschrift sind, eigentlich nur für einen engen Kreis an Interessierten. Ich habe mir damals gedacht: Auch wenn die Leute es hassen, sagen muß ich es doch wohl dürfen! Das war echt ein Einschnitt in meinem Leben, auch für mich als Person. Ich sage immer, damals habe ich meinen guten Namen verloren und war abgestempelt für den Rest meines Lebens.
Milo Rau: Du hast verschiedene Stücke über die Macht der Schauspieler:innen geschrieben – BURGTHEATER aber auch zum Beispiel die ERLKÖNIGIN. Birgit Minichmayr, die in meiner BURGTHEATER-Inszenierung die Paula-Wessely-Figur spielt und auch deine ERLKÖNIGIN gespielt hat, hat es in einem Gespräch so formuliert: Wessely nimmt die Emotionen aus den Herzen der Menschen und legt sie in die Hände der Macht. Ich arbeite ja ständig mit Schauspieler:innen, mein halbes Leben besteht aus Gesprächen und Proben im Theater. Was interessiert dich so sehr an dieser Figur bzw. an der Rolle oder Existenzform der Schauspieler:innen? Und warum taugt diese Existenzform so sehr zum Mitläufertum?
Elfriede Jelinek: „Ich nehme die Emotionen, die Selbsterhebung der Macht und lege sie in die Herzen der Menschen, die sich dann erhoben fühlen können.“ Genau das haben diese Schauspieler:innen in der Nazizeit getan. Sie haben die brutale Macht der Nazis genommen und sie in die Herzen der Menschen gelegt und dort verankert (und diese damit vergiftet). Die Theaterkunst der damaligen Zeit war Propaganda, so wie eben HEIMKEHR, meiner Ansicht nach der schlimmste Propagandafilm des Dritten Reichs. Und Paula Wessely war die bestbezahlte Schauspielerin, weil sie eben diese Macht in falsche Innigkeit gekleidet hat, den berühmten „Herzenston". Die haben schon gewusst, wen sie an ihr haben. Macht wird zu (falschen – das hat Sentimentalität so an sich – ) Gefühlen, Gefühle werden zu Gefühligkeiten. Die zweite Schiene, und das war die Spezialität der Wien Film, waren die heiteren Ablenkungsfilme mit Wiener Humor und schelmischen Gesangseinlagen. Es gibt genug theoretische Abhandlungen darüber, daß die Unterhaltungsindustrie dieser Zeit die Aufgabe hatte, die Menschen irrezuführen und vom Kriegsgeschehen und den Brutalitäten abzulenken. Und niemand musste mehr „bei Juden kaufen"! Das waren die süßen Wiener Zuckerln – eben unsere Spezialität! Und es gibt auch Studien dazu, wie der Nazi-Unterhaltungsfilm sich nahtlos in der Nachkriegszeit (es waren ja dieselben Leute, die diese Filme drehten, während die Emigranten kaum Gelegenheiten zu drehen bekommen haben) fortgesetzt hat: dieselbe Ästhetik, ein süßer Einheitsbrei, der über alles gekippt wird und es vollends ungenießbar macht. Im TV wurden noch lange an Samstagen am Nachmittag Nazifilme gezeigt, scheinbar harmlos, aber vergiftet, wenn man sie decodiert hat. Gustav Ucicky konnte schon mit CORDULA 1950 seine HEIMKEHR-Scharte scheinbar auswetzen und einen verlogenen Friedensfilm drehen, in derselben Besetzung! In der Vergnügungsindustrie gab’s eben keine Entnazifizierung. Das war dann halt Friedenskitsch – ganz wie gewünscht! Warum also mein Interesse für Schauspieler:innen? Ich habe mich an MEPHISTO von Klaus Mann orientiert, der einen Roman über den Mitläufer Gustav Gründgens geschrieben hat. Aber unsere, die österreichischen Schauspieler:innen waren keine Mitläufer:innen, sie waren Täter:innen. Und die hat niemand je vor ein Gericht gestellt. 
Käthe
Käthe: Putzi, Mausi, aufgepaßt. Sie hebt eine Terrine mit Schinkenfleckerl hoch und schüttet das Ganze mitten auf dem Tisch zu einem Haufen auf: Die Kinder kraxeln sofort halb den Tisch hinauf, versuchen, etwas davon aufzufangen, essen mit dem Kopf auf der Tischplatte, wie die Schweine. Furchtbare Patzerei!
Aus: BURGTHEATER von Elfriede Jelinek
Milo Rau: Der erste Teil von BURGTHEATER spielt Anfang der 1940er Jahre: Die an den Wessely-Hörbiger-Clan angelehnte Schauspielerfamilie bereitet sich auf die nächsten großdeutschen Aufgaben vor und verprügelt bzw. ermordet einen allegorischen Alpenkönig, der Geld für den Widerstand sammelt. Im zweiten Akt, angesiedelt kurz vor der Befreiung Wiens durch die Rote Armee, möchte man panisch einen „Burgtheaterzwerg“ – einen versteckten Juden – beschützen, damit er sich bei den neuen Machthabern für die Familie einsetzt. Ich persönlich finde ja den zweiten Akt besonders prophetisch. Es kommt mir vor, als hättest du damals in die Zukunft geschaut: Als ich 2024 nach Österreich kam, hat mich verwirrt, wie selbstbewusst sich die neuen Faschisten den Holocaust, das Verbrechen ihrer Großeltern angeeignet haben. Der FPÖ-Extremist Strache, der morgens „Gebt Gas, ihr Germanen, wir schaffen die 7. Million“ singt und nachmittags nach Yad Vashem fährt, der rechtsradikale FPÖ-Politiker Rosenkranz, der am Holocaust-Gedenkmal in Wien einen Kranz niederlegen will...
Elfriede Jelinek: Man darf nicht vergessen, von wem die FPÖ gegründet worden ist. Von ehemaligen Nazis, die dort ein Sammelbecken gefunden haben (VdU – Verband der Unabhängigen). Es waren Deutschnationale, und deutschnational samt dazugehörigem Liedgut sind sie geblieben, gegen die Fremden, die Asylanten, die Ausländer allgemein, gegen die sie das Schwert, äh, den Degen des Deutschen erheben und damit diese wunderbare Sprache, die ja mein Arbeitsmaterial ist, schänden. Das Deutsche hat diese dumpfen Ressentiments – oft aus der Provinz, die ja ihre „Reinheit" gegen den Schmutz und die Verseuchtheit und Unübersichtlichkeit der Großstadt Wien dauernd in Stellung bringt, in gutturalen Dialekten, die außer ihnen nicht viele Leute verstehen. Aber sie fühlen sich trotzdem als Nabel der Welt – nicht verdient. Man muß es gegen die Deutschnationalen in Schutz nehmen, wie man ja auch die Freiheit vor den Freiheitlichen in Schutz nehmen muß. Haider hat die österreichische Nation eine Mißgeburt genannt! Eine andere Absurdität, aber keine lustige, ist, daß Strache, Mitglied einer schlagenden Pennälerverbindung namens Vandalia, wo er die berüchtigten deutschen Recken (Küssel und Co.) kennengelernt hat, daß er also, als er Yad Vashem besucht hat, statt einer Kippa oder einer andren neutralen Kopfbedeckung die Mütze mit Couleur dieser deutschnationalen Verbindung getragen hat – eine  Verhöhnung und Herausforderung an die Gastgeber, die das vielleicht gar nicht verstanden haben, weil sie solche Gebräuche ja nicht kennen.
Milo Rau: Nun bringen wir dein Stück im Burgtheater selbst auf die Bühne, 40 Jahre nach der Sperrung. Warum hast du dich entschieden, dass jetzt der richtige Moment ist? Und, vielleicht drin vermischt: Was ist das Burgtheater für dich, was ist das für ein Ort – und was macht, idealerweise, die Doppelung von Stück und Ort mit der Inszenierung?
Elfriede Jelinek: Na ja, der richtige Moment ist mit dir gekommen, Milo. Ich hätte es nicht mit jedem, mit  jeder gemacht. Das Burgtheater ist für mich Ort der Kindheit und Jugend. Ich bin im achten Bezirk aufgewachsen, zu Fuß war das eine Viertelstunde. Ich habe dort alle die Legenden gesehen, Oskar Werner, Werner Krauß (alter Nazi, das hat mich damals aber nicht interessiert, ich wusste das gar nicht), Alma Seidler, Käthe Gold, Walther Reyer, in den ich damals verknallt war, etc. Und ich habe Stücke gesehen, die mich doch geprägt haben, Shakespeare vor allem, von dem ich nicht wagen würde, auch nur ein Zitat zu verwenden, weil mich sonst ein Blitz erschlagen würde. Er ist Gott. Aber auch Stücke, die seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeführt wurden. Zum Beispiel Grillparzers "Weh dem, der lügt", das wäre mal ein interessantes Stück für Politiker, aber auch für die genießende Klasse, für die Kochen sehr wichtig ist! Und die Lügner gewinnen natürlich, auch wenn man ihnen ein ethisches Zwangskorsett überstülpt.
Milo Rau: Wenn du das Stück heute wiederliest – Und wir haben ja Passagen wiedergelesen zusammen, Birgit hat mir erzählt, ihr habt auch zusammen reingelesen. Und in der BURGTHEATER-Inszenierung, also unserer Fantasie über Mitläufertum damals und heute, kommen lange Passagen vor. Und damit nicht genug: Ehrlich gesagt planen wir eine Total-Lektüre, eine szenische Lesung des ganzen Stücks mit allen Schauspieler:innen, für dich: Was hältst du heute davon? Mir ist aufgefallen, dass du es sehr lustig findest, wir mussten viel lachen…
Elfriede Jelinek: Das wäre wirklich toll! Das wäre die ultimative Goldene, eigentlich Platin-Schallplatte für mich! Es ist ja schon oft so gewesen, dass die Leseaufführungen im Grunde die besten Aufführungen waren. Peinlicherweise muss ich gestehen, dass ich das Stück jetzt, nach mehr als 40 Jahren, selbst wieder gelesen und die ganze Zeit nur hysterisch gekichert habe. Das mit der Kunstsprache war wirklich die richtige Idee dafür, die mir damals von irgendwoher zugeflogen ist. Man darf dabei nur nicht in die echte Mundart hineinfallen. Man sollte nicht über die eigenen Sachen lachen, aber es war ja niemand dabei. Und es ist ja auch nichts dabei.

Das Gespräch wurde am 24. Dezember 2024 geführt.
Elfriede Jelinek
© Tommy Hetzel

Elfriede Jelinek

Elfriede Jelinek, 1946 geboren, hat für ihr literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Franz-Kafka-Literaturpreis. 2004 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1960 begann sie am Wiener Konservatorium Klavier und Komposition zu studieren, anschließend, nach dem Abitur 1964, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Nach Abbruch des Studiums 1967 begann sie zu schreiben und zählt mittlerweile zu den bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautor:innen. Neben ihren Theaterstücken, Lyrik, Essays, Übersetzungen, Hörspielen, Drehbüchern und Libretti umfasst ihr Werk die Romane wir sind lockvögel baby (1970), Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972), Die Liebhaberinnen (1975), Die Ausgesperrten (1980), Die Klavierspielerin (1983), Lust (1989), Die Kinder der Toten (1995), Gier (2000) sowie den Prosaband Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (1985) und den Privat- bzw. Internetroman Neid (2007-2008).

Milo Rau
© Tommy Hetzel

Milo Rau

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist Intendant der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich u.a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Der Regisseur und Autor, der für seine Arbeit an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus bekannt ist, veröffentlichte über 100 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seine Theaterproduktionen waren bei allen großen internationalen Festivals zu sehen, darunter das Berliner Theatertreffen, das Festival d’Avignon, die Biennale Venedig, die Wiener Festwochen und das Brüsseler Kunstenfestivaldesarts und tourten durch über 30 Länder weltweit. Von 2018 bis 2024 war Milo Rau künstlerischer Leiter des NTGent (Belgien).

Burgtheater
Wiener Festwochen | Premiere
Burgtheater
nach Elfriede Jelinek in einer Bearbeitung von Milo Rau und Ensemble
„Wenn man’s in Wien aufführt, wird’s sicher der größte Theaterskandal der Zweiten Republik!“ Als Elfriede Jelinek 1981 ihr damals jüngstes Stück, eine „böse Posse mit Gesang“, ankündigte, da ahnte nicht einmal sie, dass BURGTHEATER auch ohne die eigentlich geplante Premiere im Burgtheater ihren Ruf als „Nestbeschmutzerin“ begründen sollte.
Die Urlesung: Burgtheater
Burgtheater
von Elfriede Jelinek
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