AKINS TRAUM
Das Gespräch EINE GEGENERZÄHLUNG zwischen der Dramaturgin Lea Goebel und dem Autor Akın Emanuel Şipal ist zuerst im Magazin MYTHOS des Schauspiel Köln, Spielzeit 2023/24, erschienen.

EINE GEGENERZÄHLUNG
Um das Osmanische Reich ranken sich viele Mythen – von der Gründung 1299 über die Eroberung Konstantinopels 1453 bis hin zum Niedergang 1922. Das Imperium begann in der Steppe. Nomaden erschlossen sich Territorium, expandierten und wurden schließlich sesshaft. Die Erwartungen, die sich in diesem Imperium vereinten, waren groß, wurden letztlich jedoch enttäuscht. Der Autor Akın Emanuel Şipal im Gespräch über Gründungsmythen, alternative Geschichtsschreibung, Europa und Gelsenkirchen.
Lea Goebel: Beginnen wir mit den Ursprüngen. Was hat es mit dem berühmten Traum Osmans auf sich?
Akın Emanuel Şipal: Das ist eine fantastische Geschichte. Osman ist damals ein Hirte und Krieger, der eine kleine Gruppe aus Familienmitgliedern und Bekannten um sich geschart hat und mit ihnen durch Nordwestanatolien zieht. Unter ihnen ist ein theologischer Berater, eine Art spiritueller Mentor. Eines nachts fährt der Mond in die Brust des spirituellen Mentors, bricht aus dieser wieder heraus und fährt dafür in die Brust Osmans. Wenig später erwächst aus Osmans Bauchnabel ein Baum. Dieser Baum wächst weit in den Himmel, die Blätter und Äste des Baumes erstrecken sich über die ganze Welt und legen diese in Schatten. Der Schatten ist positiv konnotiert, weil wir es zu dem Zeitpunkt noch mit Nomad:innen zu tun haben, die eher mit der prallen Sonne zu kämpfen haben, als mit zu viel Schatten. Im Schatten können Dinge wachsen und gedeihen. In diesem Welt-Schatten tun sich nun also an allen Ecken und Enden Quellen und Bäche auf. Es gibt Wasser. Die Menschen dürfen entscheiden, was sie damit tun: ob sie ihre Felder bewässern oder ihre Tiere tränken wollen. Symbolisch stehen die Felder für die Sesshaftigkeit. Die Tiere wiederum stehen für das Nomadenleben. Osman erträumt sich hier einen inklusiven Weltentwurf. Eine mütterliche, elterliche Ordnung für alle. Es geht nicht um reine Herrschaft, Krieg und Unterdrückung, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen, um Speisung und das Ernähren der Menschen auf der ganzen Welt. Das ist der Gründungsmythos. Mit dem Wissen versteht man auch, warum das Osmanischen Reich die ersten Jahre so erfolgreich funktioniert hat. Irgendwann waren die Osmanen nicht mehr so geschickt.
Welche Rolle spielten religiöse Überzeugungen im Osmanischen Reich und ihrer Regierungsführung?
Als Osman den Grundstein für das Imperium legte, waren sie noch nicht sehr lange muslimisch. Sie waren ohnehin keine orthodoxen Muslim:innen, sondern heterodoxe. Sie lebten den Glauben nicht dogmatisch aus und hatten kein Problem, mit Christ:innen unter einem Dach zu leben oder ihre Feiertage zu begehen. Mischehen waren Normalität. Die europäische Geschichtswissenschaft hingegen betont vor allem in den ersten Jahren der Osmanistik das Gazi-Motiv sehr stark – das Motiv des religiösen Kriegers, der die weltliche Herrschaft ausdehnt. Gerade am Anfang sind die Osmanen aber Macher. Sie haben erobert und sich territorial ausgebreitet, weil sie die Fähigkeiten hatten und zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Die Reflexion dieses Erfolgs, die Notwendigkeit einer starken Entstehungsgeschichte oder eines übergeordneten Auftrags setzen erst später ein. Die andere Frage ist: Wie geht man mit der Bevölkerung der eroberten Gebiete um? Da spielt Religion schon eine Rolle. Jüdische und christliche Menschen gelten in der islamischen Tradition als Schutzbefohlene, sie müssen eine Steuer zahlen, im Gegenzug gibt es Schutz und Religionsfreiheit. Zwangskonversionen sind die Ausnahme. Die Osmanen waren am Anfang in der Unterzahl und darauf angewiesen, sich mit ihren christlichen und jüdischen Untertan:innen gutzustellen. Einige Jahre später, ca. 1517, als Selim I. Mekka, Medina und Jerusalem eroberte, verändert sich das Verhältnis drastisch. Dadurch, dass Selim diese heiligen Städte eingenommen hatte, hatte er dem Osmanischen Reich auch die Verantwortung für die islamische Tradition aufgebürdet, das Kalifat. Plötzlich waren die Muslim:innen erstmalig in der Überzahl. An dieser Stelle der Geschichte wird aus dem osmanischen Staat ein islamischer Staat. Bis dahin gab es einen universellen Identitätsentwurf, aber ab diesem Moment hatte der Islam eine verbindende Wirkung, förderte den Zusammenhalt und stärkte die Identität.
Wie kam es zum Niedergang des Osmanischen Reichs?
Das hat viele Gründe. Ein Grund ist z.B. das Gold und Silber, das aus der Neuen Welt kam. Die Osmanen waren ein Imperium, das von Handel, Steuern und Zöllen lebte. Sie bestimmten maßgeblich alle Handelsrouten. Nun brachte die Neue Welt neue Werte wie Gold und Silber und dadurch veränderte sich das Machtverhältnis. Ein weiterer Grund war die zu große territoriale Ausdehnung. Sie waren am Anfang zu Pferd unterwegs. Das funktioniert auf dem Eurasischen Steppengürtel zwischen Europa und China gut. Doch dann breiteten sie sich um das Mittelmeer herum aus, das bedeutete Schifffahrt. Das Reich wurde zu groß, um es zu kontrollieren, das Qualitätsmanagement litt und die neue Steuerreform, um dem Werteverfall des Geldes entgegenzuwirken, wurde nicht gut vom Volk angenommen. Ein weiterer Aspekt war die Öffnung der Janitscharen. Sie waren ein Machtfaktor und effektives Werkzeug des Reichs. Es handelte sich um unheimlich loyale Soldaten. Sie wurden als kleine Jungen geraubt, sehr gut ausgebildet und zu absolutem Gehorsam erzogen. Die Auswahl war höchst selektiv und daher prestigeträchtig. Diese Elitetruppe wurde dann für zahlende Familien geöffnet. Die Janitscharen entwickelten mehr und mehr eine Eigendynamik, ließen sich nicht reformieren, wollten von neuer, moderner, westlicher Kriegsführung nichts hören. Am Ende hat man die Janitscharen-Kaserne beschossen und alle getötet. Sie waren am Anfang eine so progressive Erfindung, am Ende waren sie ein Element der alten Welt. Das sind einige Gründe. Persönlich finde ich diese unwissenschaftliche These interessant: Die Nomaden sind sesshaft geworden und haben sich dadurch selbst verloren.
Das Stück geht auf die Suche nach Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Szenen spielen teils in der historischen Zeit, teils heute in Gelsenkirchen. Wie prägt die Osmanische Geschichte das kulturelle und soziale Gefüge dieser Stadt?
Gelsenkirchen ist eine Stadt, die viele Geflüchtete und EU-Binnenmigrierte aufgenommen hat. Wir haben viele Sinti:zze und Rom:nja in der Stadt, syrische und irakische Geflüchtete. Es gibt sowieso eine relativ große türkischstämmige und kurdischstämmige Bevölkerung. Das Stadtbild hat sich dementsprechend verändert, es wirkt jung, divers und lebendig – das ist die eine Perspektive. Die andere ist: Die Stadt ist arm, hoch verschuldet, im Niedergang begriffen. Das sind widerstrebende Erzählungen. Ich habe ein Problem damit, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn man in einer Stadt mit so vielen jungen Menschen lebt. Ich kann nicht in die Zukunft schauen, aber wenn ich Rom:nja Türkisch sprechen höre, dann sind das zumindest Zeichen der Vergangenheit, ich fühle mich auf einmal verbunden und auch als Nachfahre des Osmanischen Reichs, das diese Menschen auch irgendwie geprägt hat. Das mag ein hegemonialer Affekt sein, aber es entsteht auch eine Gemeinsamkeit. Da ist Geschichte als verbindende Kraft spürbar. Natürlich auch mit all ihrer Tragik, Ungerechtigkeit und Brüchigkeit. Vor allem natürlich der Zerfall und die Niederlagen des Osmanischen Reichs und all das, was es nicht geschafft hat – nämlich nachhaltig eine gemeinsame Identität zu stiften. Mich interessiert dabei die Frage: Wie wurde das Osmanische Reich zu einem solch multiethnischen Reich? Wie ist dieser Vielvölkerstaat, der so hochenergetisch und vielversprechend begann, zum Erliegen gekommen? Jetzt gibt es viele Splitter dieses historischen Imperiums, einen Haufen Länder, aus denen die Menschen eben weggehen.
Kommen wir zur heutigen Türkei. Inwiefern beeinflusst das Erbe des Osmanischen Reiches immer noch die moderne Türkei, sei es in Bezug auf Kultur, Politik oder Gesellschaft?
Die türkische Republik ist ein Gegenentwurf zum Osmanischen Reich, gemacht von Osmanen. Es waren junge Offiziere, die in Europa ausgebildet wurden, dort den Nationalismus kennenlernten und darin die einzige Chance sahen, den Staat zu modernisieren. Primär ging es um den Erhalt eines eigenen Landes und den Versuch, nichts an die Kolonialmächte – Italien, Frankreich, Großbritannien und Griechenland – zu verlieren. Unter Atatürk wurde die Türkische Republik gegründet, mit der Einsicht, dass der Osmanische Staat es nicht geschafft hatte. Die Osmanische Kultur war das Gestrige, Schuld am totalen Ruin. Das Osmanische Reich als historische Bezugsgröße wurde ignoriert und eingemottet. Dieses negative Bild übertrug sich auf das Bildungssystem und das Selbstbild. Aber die Osmanen kommen wieder, das ist der Bumerangeffekt, in Serien beispielsweise und der Wiederentdeckung ihrer Spiritualität. Die Politik bedient sich auch daran, weil es natürlich auch ein islamischer Herrschaftsentwurf war. Gestaltungsansprüche über die türkischen Staatsgrenzen hinaus werden aus der Osmanischen Geschichte abgeleitet. Das hat etwas Tragisches, weil die Türkei, wie wir sie heute kennen, nicht mehr viel gemein hat mit dem Osmanischen Reich. Vor allem in Bezug auf das Multiethnische: Das, was miteinander verwachsen war, wurde getrennt, auseinanderdividiert und letztlich kaputt gemacht. In Istanbul spürt man das ganz besonders. Die Stadt atmet noch ganz zart den Geist einer Hauptstadt eines multiethnischen Staates. Wenn der Nationalismus aber nicht kritischer reflektiert wird, hat sich dieser Geist bald vollends ausgehaucht.
Wie wichtig ist es, in dem Stück ein anderes, alternatives Bild zu vermitteln?
Das ist essenziell. Es geht nicht nur um die türkische Identität, sondern um den Gegenentwurf im Allgemeinen. Es braucht das Andere und das tradierte große Andere waren eben die Türk:innen oder Muslim:innen. Der Gegenentwurf ist – und das hat man über viele Jahrhunderte geleugnet – ein Teil des Eigenen. Wenn wir von Europa sprechen, kann man die Osmanen nicht ausklammern, weil die Osmanen ganz eindeutig auch eine europäische Kultur sind. Thrakien, Westtürkei, das heutige Grenzgebiet zu Griechenland und Bulgarien: Das ist das Zentrum der osmanischen Bewegung nach 1400 gewesen. Die Hauptstadt lag in Europa. Die Osmanen sind Europäer. Sie sind genetisch den Griech:innen näher als den Zentralasiat:innen, kulturell den Byzantiner:innen und Griech:innen ähnlich. Es ist wichtig, das sinnlich nachvollziehbar zu machen. Und auch darüber zu sprechen, dass das mehrheitlich nicht akzeptiert wird. Es geht um die Frage, wie wir die geworden sind, die wir heute sind. Erzählungen darüber sind natürlich westlich geprägt. Wenn man jedoch von der Osmanischen Geschichte ausgeht, verschiebt sich der Fokus. Alan Mikhail beschreibt in seinem Buch GOTTES SCHATTEN das Osmanische Reich als Treiber für die Moderne. Das spielt im Geschichtsunterricht hier gar keine Rolle. Unsere Ängste beziehen sich bis heute auf die tradierten Prototypen des Anderen, z.B. auch auf »die Türken«. Es wäre naiv zu glauben, dass man ihnen heute objektiv begegnen kann, nachdem man hunderte von Jahren Angst vor ihnen hatte. Die Machtverhältnisse waren mal ganz anders gelagert. Dieser geschichtliche Zusammenhang bedeutet aber etwas im Hinblick darauf, wie die Türkei in Europa eingemeindet wird oder nicht, wie sich das Konfliktpotenzial zukünftig entfalten wird oder nicht. Es kursiert ja seit Jahren der Begriff des Neo-Osmanismus, also der Ableitung imperialer Bestrebungen aus der Osmanischen Geschichte, interessant ist, dass dabei von allen Seiten die Geschichte selbst außer Acht gelassen wird. Da wird also etwas abgeleitet, aber niemand versucht zu überprüfen, inwiefern sich diese hegemonialen Ansprüche mit dem decken, worauf man sich bezieht: Osmans Traum heute? Da würde ich sagen, die Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte plus die Anpassungsfähigkeit und den Pragmatismus der Osmanen eingerechnet, kommt dieser Traum eher einer Art EU nahe, in der die Türkei und der Islam als Teil der eigenen Identität eingemeindet sind, als irgendwelche historisierenden Fantasien. Pragmatismus und wenig ideologische Praxisnähe, so würde ich, nach allem was ich zu den Osmanen gelesen habe, ihre anfängliche Kultur beschreiben.