Mehr: DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN

© Tommy Hetzel

Es gibt kein „als ob“

Regisseur Robin Ormond und BURG-Schauspieler Michael Wächter im Gespräch mit Stückdramaturgin Lena Wontorra

Lena Wontorra: „Ich habe eine Vorliebe für merkwürdige Orte“, hat Bernard-Marie Koltès einmal in einem Interview über DIE NACHT KURZ VOR DEN WÄLDERN gesagt. Ihr auch, oder wie kamt ihr drauf, den Monolog im Stadtraum zu machen?

Robin Ormond: Wir haben den Text zuerst in einem geschlossenen Raum probiert und dann schnell gemerkt, dass es in dieser Umgebung für uns wenig Sinn macht. Die Idee war, den Gedanken dieses eigenartigen Mannes auf der Straße zu hören und ihm dabei zu folgen. Koltès hat den Text wie eine Fuge geschrieben, man hat den Eindruck, das sind Gedanken, die nie aufhören. Wir wollten, dass man jemandem in alltäglicher Umgebung beim Formulieren dieser Gedanken zuhören kann.

LW: Wie verändert sich ein Monolog, wenn er nicht im geschlossenen Theaterraum, sondern mitten in der Stadt gespielt wird? 

Michael Wächter: Auf der Bühne kann man sich immer hinter den Mitteln des Theaters verstecken, in der Stadt gibt es kein Verstecken. Es kann immer nur sein, was es ist: Es sind die Leute da, die da sind. Es fliegt ein Vogel oder es fliegt kein Vogel … Es gibt kein „als ob“. Es ist immer real – und es ist prinzipiell gar nicht mein Bestreben, dass Theater real sein muss. Aber im Zuschauer:innenraum sitzt man immer auf einem bequemen Sessel und das tut man bei uns eben nicht. Man macht eine komplett andere Erfahrung. Es ist eine echte Begegnung mit jemandem, ein Erlebnis. Es ist schwer, das zu beschreiben … Aber es liegt an diesem Draußen.

LW: Fühlt sich das fehlende „als ob“ manchmal auch gefährlich an?

MW: Ich habe natürlich keine Angst, aber ich will das Ganze schon am liebsten jedes Mal absagen und frage mich, wer eigentlich die Idee hatte und was das überhaupt soll. Also das begleitet mich die ganze Zeit… (lacht)

LW: Das kann ich nachvollziehen, du bist ja ohne doppelten Boden unterwegs …

MW: Ja, aber das liegt natürlich auch an dem Alleinsein, das würden sicher andere Kolleg:innen, die Monologe spielen, auch bestätigen. Die Parameter, an denen man sich in einem Ensemble festhalten kann, die gibt es hier einfach nicht …

LW: Welche inszenatorischen Entscheidungen waren notwendig, um den Monolog auf diese Art in die Stadt zu tragen?

RO: Am Anfang haben wir versucht, Orte zu finden, die zum Text passen, damit es eine Korrespondenz gibt zwischen den Orten und den Texten, die dort gesprochen werden. Nach und nach hat Michael vorgeschlagen, die Reihenfolge des Textes zu ändern, damit wir auch die Poesie mit der Stadt weiterentwickeln können. Also haben wir uns erlaubt, die Themen von Koltès in eine Reihenfolge zu stellen, die zu der Stadt passt, in der der Monolog stattfindet. 

MW: Wir machen eigentlich eine „kaputte Dramaturgie“, wir bedienen bewusst keine Erwartungshaltung gewöhnlicher Erzählstrukturen. Bei uns soll man permanent das Gefühl haben, dass die Inszenierung vielleicht gleich vorbei ist, einen Moment zu lang ist, oder dass Handlungen unlogisch sind – ich glaube das ist, was mich fasziniert und interessiert, weil die Realität ja auch so ist: Leute tun unanständige Sachen, Leute tun unlogische Dinge, obwohl sie es besser wüssten. Leute machen sich Probleme, obwohl sie einfach nur miteinander reden müssten. Das anzunehmen kann Trost spenden und das finde ich im Theater oder ohnehin in der Kunst ganz wichtig. 

LW: Der Text handelt von Einsamkeit, Ausgrenzung und dem Wunsch nach Nähe. Wie spiegelt die Stadt als Bühne diese Themen? Wonach sucht ihr, wenn ihr die Route plant?

MW: Ich glaube, es kann jede:r mal ausprobieren, wie wenig passiert, wenn man sich irgendwo hinstellt und einfach mal „Entschuldigung“ sagt. Die Isolierungserfahrung in der Großstadt ist immens. Aus dieser Beobachtung kommt die Sehnsucht nach Orten, an denen viele unterschiedliche Menschen zusammenkommen – also Cafés, Restaurants, U-Bahnen, Promenaden … Natürlich gibt es auch noch die Ecken, die ein bisschen Anti-Theater sind. Und dann gilt es, in Korrespondenz mit dem Text herauszufinden, ob es gut ist, wenn Text und Umgebung zusammenpassen, oder ob es besser ist, wenn es gerade nicht passt. Wie im Leben ja auch, manchmal sagt man die passendsten Sachen in einer unmöglichen Umgebung.

RO: Auf der Straße können wir zwar ungefähr sagen, wo es lang geht, aber wir können keine Details entscheiden. Wir wissen nie, wie es wirklich wird, weil wir die Stadt nicht kontrollieren können. Dadurch wird die Arbeit freier. In Carl Hegemanns DRAMATURGIEN DES DASEINS habe ich gerade ein Zitat gelesen: Kunst sei Freiheit vom Sozialen, aber mitten im Sozialen – das ist das, was wir machen. Wir sind mitten in der Welt und gleichzeitig erlaubt uns die Form, die Welt zu beobachten durch den Blick eines Menschen, der gewalttätig ist, aber auch etwas Einschneidendes erlebt. Dadurch entwickelt sich Empathie. Und das ist, was ich immer wieder spannend finde.

LW: Michael, wir sind jetzt bei der Figur gelandet. Das ist jemand, der auf Anhieb nicht besonders sympathisch erscheint. Wenn du diese Texte im öffentlichen Raum sprichst, stellst du dich mit deinem Körper zu Verfügung. Wie ist das, sich in dieser Öffentlichkeit dem auszusetzen, diese Figur zu sein?

MW: Das hat eine ganz schöne Reise genommen. Der Text ist sehr anspruchsvoll, da war zunächst der Fokus daraufgelegt, dass man dem Gesprochenen überhaupt gut zuhören kann. Und dann galt es, um mich herum Szenen und Beobachtungen aufzuspüren, die man einbeziehen könnte. Die eingeübte Situation macht ungefähr 60% aus. Der Rest ist, zu schauen, was die Stadt zur Verfügung stellt. Und sich darauf zu verlassen, dass auch dieser Teil jedes Mal wieder spannend für ein Publikum ist. Das fühlt sich schon riskant an. Ich weiß aber inzwischen, dass das funktioniert und versuche, darauf zu vertrauen. Ich spiele natürlich auch gerne angenehmere Abende, aber es ist auch oft so, dass man zwar eine gute Zeit auf der Bühne hat, sich das aber nicht ins Publikum transferiert. Da ist es mir lieber, wenn es für mich eineinhalb Stunden unangenehm ist, ich aber sicher sein kann, dass ich den Leuten eine besondere Erfahrung geschenkt habe. Ich hoffe, dass das eine andere Tiefenwirkung hat.

LW: Die Inszenierung ist ursprünglich am Theater Basel entstanden, dann habt ihr sie am Residenztheater München wiederaufnehmen können und jetzt spielt sie hier in Wien. Es gibt also inzwischen drei unterschiedliche Versionen dieser Inszenierung. Wie habt ihr die Arbeit auf die neuen Städte adaptiert?

RO: Das Konzept hat sich nicht geändert, aber dadurch, dass wir neue Routen finden müssen, erzählen wir jedes Mal eine neue Geschichte. Basel zum Beispiel ist viel kleiner und übersichtlicher als München und Wien, das hat eine ganz andere Stimmung mit sich gebracht. In München gab es dann viel mehr Menschen und die gesellschaftlichen Ungleichheiten waren sichtbarer, die Inszenierung wurde brutaler und dadurch auch poetischer. In Wien sind wir jetzt auf einmal in einer Hauptstadt und das merkt man natürlich auch. Wir sind hier nicht im gleichen Bühnenbild, wir müssen es neu zusammenbauen.

MW: Ich glaube, Koltès ist ein sehr poetischer Autor und mein Interesse ist der Widerspruch, auf den man da trifft. Ich glaube, es gibt keine Poesie ohne Härte. Die Härte macht das Ganze noch poetischer. Die Poesie unserer Arbeit ist die Unmittelbarkeit, in der diese Sachen gesagt werden.

LW: Wie habt ihr die Route in Wien ausgewählt?

MW: Es war ja klar, dass wir am Kasino starten werden und von dort bin ich dann einfach mal losgelaufen. Erst nach links und dann nach rechts, und dann schaut man mal, was interessant sein könnte. Das Wichtige ist, dass man die Leute dazu animiert, mitzugehen. Eine Frage, die wir uns viel gestellt haben, lautet: „Warum würde ich da eigentlich mitgehen wollen?“

RO: Die Figur hat eine gewisse Anziehungskraft und der Weg muss neugierig machen, damit man sich nicht währenddessen fragt: „Ok, got it … what‘s next?“ – Wien ist eine so vielfältige Stadt, da hat das auf Anhieb gut funktioniert. Als ich mit Michael in Wien geprobt habe, hatten wir wirklich das Gefühl, dass das Stück in Wien seinen Platz findet. Es fühlt sich an, als wären wir hier zu Hause!

LW: Das fand ich auch schön in der Arbeit, zu merken, dass es eigentlich gar nicht um das Finden von Stationen geht, sondern im wahrsten Sinne um den Weg und immer wieder darum, was man erlebt. Nicht nur, wo man eine Szene spielt, sondern wie man gemeinsam auf eine Reise geht.

MW: Im Theater bewegt sich niemand, außer die Leute auf der Bühne. Uns ist im Gegenteil wichtig, dass das Publikum eine aktive Erfahrung macht. Ich glaube, die Chance, die dieses Format bietet, ist, erlebbar zu machen, dass jemand sagt: „Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich habe kein zu Hause.“ Deswegen kann ich mir gar nicht vorstellen, wie man das anders inszenieren sollte … (lacht).

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