MEHR: GULLIVERS REISEN

Gulliver

Vor zweihundert Jahren sind in England kurz nacheinander zwei Bücher geschrieben worden, welche sich rasch über die ganze Welt verbreitet haben und seither in tausend Bearbeitungen, Übersetzungen und Nachdichtungen zu den weitverbreitetsten Büchern der Welt gehören. Es sind Defoes ROBINSON und Swifts GULLIVER, beides halbphantastische Reiseromane, beide ursprünglich durchaus für Erwachsene geschrieben, beide im Laufe der Zeit zu höchst haltbaren und unermeßlich einflußreichen Kinderbüchern geworden.

Die REISEN GULLIVERS von Jonathan Swift haben ein ganz besonderes Schicksal gehabt, essind schon die ersten englischen Ausgaben voll von Fehlern, Weglassungen und Zutaten von fremder Hand gewesen. Weiterhin wurde das rasch überaus berühmt gewordene Buch unzähligemal neu gedruckt, übersetzt, überarbeitet, und jener GULLIVER, den wir als Kinder in Bearbeitung und Kürzungen kennengelernt haben, ist nur noch ein Schatten, eine Erinnerung an das Original. Swifts ganzes Wesen drängte ihn zur Erforschung unserer seelischen und sozialen Mechanismen und zur Politik; aus Armut griff er aber zum Studium der Theologie und begann seine Laufbahn als kleiner Hungerpastor. Auf Protektion angewiesen, fand er sich häufig schwer von seinen zeitweiligen Gönnern enttäuscht, und wie er mehr und mehr zum politischen Schriftsteller wurde, so kam auch in seinen Studien und literarischen Strebungen immer mehr die Kritiklust des Unterdrückten zum Ausdruck. Er endete einsam, menschenscheu und tief verbittert in einem geistigen Zustande, den frühere Biographen Wahnsinn nannten, den wir aber, allen Zeugnissen nach, nicht mehr so nennen dürfen. Es war vielmehr die Vereinsamung eines tiefleidenden, geistig aber völlig ungetrübten Neurotikers, eines Mannes, dessen Leben und Denken sich unheilvoll isoliert und zu einer nicht mehr ertragbaren Sensibilität gesteigert hatte.

 

Als das Bekenntnis dieses Mannes, dieses genialen, scharfsinnigen, empfindlichen und gegen das Leben schwach gewappneten Denkers ist uns der GULLIVER geblieben, seine größte und reinste Dichtung. Den unglücklichen Swift für die Bitterkeit seiner Beurteilung menschlicher Dinge anzuklagen, wäre ebenso falsch und nutzlos wie eine Anklage gegen die vielen Generationen seiner Leser, welche aus dem fabelhaften Reichtum seiner Dichtung sich nur die verdaulichsten, friedlichsten, bequemsten Bissen herausgerissen und das Ganze allmählich vergessen haben. Die lodernde Auflehnung und Erbitterung des vergrämten einzelnen gegen Menschheit und Weltlauf und die bequeme Art, mit welcher die Menge das Werk dieses genialen einzelnen verstümmelte, um es sich mundgerecht zu machen, beide waren tief begründet, beide waren notwendig. Nicht minder notwendig aber ist es, daß je und je die Menschheit sich einer so ungeheuren Mahnung, wie sie im Gulliver steckt, wiedererinnere, und von neuem den bitteren Bissen schlucke, da das Darüberweglesen und Darüberweglügen immer nur für eine kleine Weile hilft. Darum steht Swifts geniales und furchtbares Buch heute wieder vor uns und wird immer wieder seine Stimme gegen unsre Bequemlichkeit erheben, weil es Dinge sagt, welche zwar im Gehirn eines schwer leidenden einzelnen entstanden und von ihm mit einer vielleicht pathologischen Leidenschaftlichkeit erlebt und formuliert worden sind, welche aber nach wie vor uns alle angehen.

 

Und wenn schließlich dieser Jonathan Swift aus lauter Menschenhaß ein Land erfindet, in welchem edle Pferde herrschen und Vernunft und Tugend üben, wenn er alle Ziele menschlicher Gemeinschaft, menschlicher Ordnung, Vernunft und Brüderlichkeit jenen Pferden anvertraut und sich ihnen gegenüber seines eigenen Menschentums als eines Makels schämt — wieviel Menschenliebe, wieviel heiße Sorge um die Zukunft unsrer Art, wieviel heimliche, glühende Liebessorge um Menschheit, Staat, Moral, Gesellschaft glüht in dieser phantastischen Vorstellung auf! Nein, gerade dies letzte Buch der REISEN GULLIVERS, dies berühmte und berüchtigte Dokument eines ungewöhnlich wilden Menschenhasses ist ja nichts andres als eine heftige, wenn schon pervertierte Liebe!

Hermann Hesse. In: Jonathan Swift. Gullivers Reisen aus dem Englischen von Franz Kottenkamp, vervollständigt und bearbeitet von Roland Arnold mit einem Vorwort von Hermann Hesse. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1972. Lizenzausgebe mit freundlicher Genehmigung von Aufbau Verlag, Berlin 1967.

Jedes Kind kennt GULLIVERS REISEN. Aber nur wenige Erwachsene ahnen, dass Jonathan Swift diesen Roman gar nicht für Kinder geschrieben hat. Die ersten beiden Abschnitte werden oft nur als harmlose Parabeln wahrgenommen, als Märchen. Am Ende des Romans wird der Mensch sogar zur Missgestalt erklärt. Nein, das ist keine Gutenachtgeschichte für Buben und Mädchen ...

Das Besondere bei Swift ist, dass in seinem Werk kein Wesen vom Spott verschont bleibt, niemand kommt in dem Buch gut weg. Der Leser kann zu guter Letzt nicht einmal mehr die klugen und edlen Pferde, die Houyhnhnms, bewundern, nachdem sie Gulliver, den gefürchteten Fremden, in die Verbannung geschickt haben. Zugleich verhöhnt Swift in diesem Teil auch die Menschen, die nichts anderes als gezähmte Bestien, Yahoos, seien. Sogar der Erzähler, Gulliver, der sich vergeblich abmüht, ein Houyhnhnm zu werden, wird letztlich zum skurrilen Sonderling, der lieber ein Gaul wäre als ein Mensch. Der Roman gewinnt mit jedem Abschnitt an satirischer Kraft.

In jener Epoche, als Jonathan Swifts Roman erschien, waren die Atlanten noch voller weißer Flecken und unentdeckter Länder. Für die damaligen Leser muss der Effekt von Gullivers Reisen so gewesen sein, als würde heute der verbriefte Bericht eines anerkannten Astronomen über eine Exkursion ins Weltall veröffentlicht werden. Die Gegebenheiten andernorts sind uns nicht so fremd, wie sie auf den ersten Blick scheinen, da sie unsere eigenen Verhältnisse und Schwächen widerspiegeln. Allein die Einleitung, die aus dem Vorwort des fiktiven Herausgebers Richard Sympson und dem Brief des Kapitäns Gulliver an ihn besteht, mutet modern, ja, beinah postmodern an. Jonathan Swift erfand nicht nur einen fiktiven Autor namens Gulliver. Im Vorwort gesteht der imaginäre Herausgeber Sympson, den Text Gullivers verändert zu haben, worauf Gulliver sich in einem fingierten Brief von dem, was da veröffentlicht wurde, distanziert.

Swifts Buch wurde von vielen verdammt, doch von noch mehreren gelesen. George Orwell meinte 1946, wenn er eine Liste mit nur sechs Werken der gesamten Weltliteratur erstellen müsste, die vor der Vernichtung bewahrt werden könnten, wäre GULLIVERS REISEN eins davon. Der Roman, geschrieben im 18. Jahrhundert wirkt längst nicht so alt, wie er ist. 

Wer den Essay von George Orwell zu GULLIVERS REISEN liest, versteht, weshalb Orwell begeistert war, obgleich er Swifts politische Ansichten reaktionär nannte. Was aber Orwell überzeugte, war nicht allein, wie meisterhaft Swift die Handlung entwickelte und in Sprache goss. Nein, Swift, so Orwell, zeichnete zwar ein grundfalsches Bild von den Menschen und ihrer Kultur, doch hielt er auf diese Weise einen Aspekt fest, der in gewissen Momenten die ganze Wahrheit umfasst. Swift beschrieb die dunkelsten Schattenseiten der Zivilisation, weil er die Lichtblicke partout nicht wahrnehmen wollte. Orwell widersprach zwar dieser Sicht, doch er erkannte, dass Swift in seinem Buch schon von Verfolgungsmethoden geschrieben hatte, die erst im zwanzigsten Jahrhundert endgültig zu Tage traten. Swift habe, so Orwell, in seiner Darstellung der vernünftelnd leidenschaftslosen Houyhnhnms nicht nur die Aufklärung kritisiert, sondern mit der Beschreibung einer kalten Utopie bereits den Totalitarismus vorausgeahnt und davor gewarnt.

Was George Orwell 1946 ansprach, zeigt sich zu Beginn des neuen Jahrtausends noch deutlicher. Mit GULLIVERS REISEN gelang Jonathan Swift ein vager Vorgriff auf das, wovon viel später Arthur Koestlers Roman SONNENFINISTERNIS, George Orwells FARM DER TIERE handelten und was seit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG genannt wird.

Wer GULLIVERS REISEN liebt, braucht von diesen Theorien nichts zu wissen. Er kann das Buch auch ohne Querverweise lesen. Der Roman schärft den Geist und ist zugleich unterhaltsam. So zeigt uns Swift die kleinlichen und die monströsen Züge des Menschlichen, die wilde Unbesonnenheit der Yahoos und die Widersinnigkeit jener, die vernünftiger sein wollen, als einer je vernünftig sein kann. Vor allem warnt Swift uns vor den allzu hehren Hoffnungen auf die Menschheit, die uns den einzelnen Menschen vergessen machen können. Swift ruft uns das Individuum in Erinnerung. Er lässt uns mit anderen Augen auf uns blicken. Er schickt uns aufs offene Meer und in fremde Länder, bis wir uns endlich selbst begegnen.

 

Doron Rabinovici: In: Jonathan Swift. Gullivers Reisen. Nacherzählt und mit einem Nachwort von Doron Rabinovici, illustriert von Flix. Insel Verlag, Berlin 2017

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