Über den Sommer 1940 auf Gut Marlebäck
Im Sommer 1940, als Friede im Land herrschte und auf den Mooren von Marlebäck der Hafer rauschte, auf den Stangen der Klee und an den Grabenrändern Lavendel und Minze dufteten, der Himmel sich abends wie eine Riesenmuschel über dem blauseidenen Kymifluß wölbte und der Abendwind uns mit pastelligem Hauch küßte, da versammelten wir uns allabendlich in meinem Zimmer. Durch die geöffneten Fenster und die Verandatür atmete der Kymi herein, und meine langen weißen, zarten Gardinen wehten nach draußen und winkten die Antwort auf den Gutenachtgruß der weißen Möwenflügel.
Das war das allabendliche Symposium am Kymi. Brecht kauerte in einem Sessel an der Verandatür, dunkel und ohne Kragen, seine ewige Zigarre rauchend, Helene mit ihrem edlen Profil und ihren schlanken Fingern bediente unsere silberne Wiener Kaffeemaschine ..., sorgsam maß sie das kostbare, duftende Pulver ab. Die Hände der Tragödin waren hoffnungslos rauh und gerötet vom Kartoffelschälen und Geschirrspülen für ihre Flüchtlingsfamilie, und ihr Haar von den Sorgen ergraut, aber ihre Augen strahlten Humor und Lebensfreude aus ... Brecht brauchte die Tasse Kaffee nach dem Abendessen, wie wir alle. Und unsere Zungen standen nicht still, unser Optimismus, an dem es uns nie mangelte, erreichte die Höhen des Hiisivuori und führte uns über den Weltfrieden bis zum Berliner Staatstheater. Wir verschrotteten die Bomber und fanden für sie einen ausgezeichneten Verwendungszweck ...
Ruth Berlau, die im Königlichen Theater Dänemarks die Rolle der Marta Niskavuori spielte, saß unter meiner Tizian-Kopie, schön wie eine Blume, und legte ihr geheimnisvolles Mona-Lisa-Lächeln Brecht zu Füßen. Neben meinem Schreibtisch, hinter meinen Blumenvasen versteckt, die mit den Marlebäckschen Madame-Heriot-Rosen gefüllt waren, saß die kleine Margarete Steffin, Brechts Sekretärin, und spielte mit ihrem Bleistift. (Später stellte sich heraus, daß sie Brechts und meine Geschichten mitstenographiert hatte.) Die arme Grete – die tapfer ihre Lungenschmerzen und ihr Fieber verbarg und die der Tod, des Spiels überdrüssig, innerhalb weniger Tage fortführte – in Moskau, auf der Reise in die Freiheit Amerikas ...
Ich lehnte in der Sofaecke, müde vom Herumlaufen auf den Feldern und in den Wäldern von Marlebäck, wohlig müde, und erzählte. Auch Brecht erzählte: von Piscator, der am laufenden Band Theater machte, von all den Verrücktheiten in den Glanztagen des deutschen Theaterlebens der zwanziger Jahre und den Divas der UFA. Und dann erzählte ich eine wilde Geschichte und am nächsten Tag hörte ich, daß Brecht und Margarete Steffin meine Geschichten sammelten, um sie unter dem Titel „Hella Wuolijoki erzählte“ zu veröffentlichen.
Hella Wuolijoki erzählt jetzt von Helene Brecht. Helene, ein Jahr lang leuchtetest du als Stern in Marlebäck und Helsinki. Wir besuchten dich und saßen auf zerschlissenen Stühlen aus der Rumpelkammer, die du dir für dein provisorisches Heim geliehen hattest, wir tranken Tee und deinen letzten kostbaren Kaffee aus irgendwo zusammengesuchten Tassen – in deiner Küche waren wir um deinen ungehobelten Tisch versammelt. Wir diskutierten über das epische Drama und aßen das herrliche Wiener Brot, das du gebacken hattest; du empfingst uns wie in Berlin in deinem glanzvollen Salon, ganz große Dame und Gastgeberin. Wir sprachen über das Drama und den Krieg, über die Gesellschaft, die Zukunft der Völker, die Literatur, und vergaßen, daß wir auf einem alten zerschlissenen Sofa saßen, das ich dir zur Verfügung gestellt hatte, und daß vor deinen Fenstern die alten Samtgardinen hingen, die du bei mir auf dem Boden gefunden und dir ausgeborgt hattest – du hattest dich geweigert, neue Gardinen von mir anzunehmen. Und manchmal sangst du für uns alte Volkslieder, solche, die nicht in den Büchern stehen, und Brecht spielte auf der Gitarre Weills Kompositionen zu seinen Gedichten.
Helene, ich denke an dich an diesem Sonnabendabend im Gefängnis, und ich mache mir nichts daraus, daß mein Haar aschgrau geworden ist .... (Brecht würde sagen, das paßt zu meinem Stil), und auch nichts daraus, daß ich lernen mußte, Salzhering mit den Fingern zu essen und daß ich schon zwei Sommer kein lebendiges Gras mehr gesehen habe ...
Wie haben wir damals auf dem Hügel von Marlebäck gelegen, die Gesichter ins Gras gedrückt, und wie gierig haben wir die Gerüche der Erde eingeatmet ..., meiner Erde ... Heli, auch ich befinde mich jetzt auf den Straßen Europas …
-Hella Wuolijoki
EINE ABENDGESELLSCHAFT BEI HELLA WUOLIJOKI ist ein in sich gekürzter Auszug aus: Hella Wuolijoki: Und ich war nicht Gefangene. Memoiren und Skizzen. Herausgegeben von Richard Semrau. Aus dem Finnischen von Regine Pirschel. Hinstorff, Rostock 1987
5.7.40
mit HELLA WUOLIJOKI nach gut marlebäk (kausala) gefahren. sie gibt uns eine villa zwischen schönen birken. wir sprechen von der stille hier heraußen. aber es ist nicht still; bloß sind die geräusche viel natürlicher, der wind in den bäumen, das rascheln des grases, das gezwitscher und was vom wasser herkommt. das gutshaus, weiß, mit zwei reihen von je acht großen fenstern, ist über 100 jahr alt, im empirestil gebaut. die zimmer sind museumsreif. neben dem gutshaus liegt ein riesiger steinbau für die kühe (etwa 80 stück) mit fütterungsluken von oben, wohin das lastauto mit dem futter fährt, und schöner wasserspülung, alles in eisen und herrlichem holz, der rötlichen fichte des nordens. der winter war sehr hart in diesem kriegsjahr. so ist der kirschgarten erfroren, und da das frühjahr ohne regen war, steht auch das gemüse ärmlich. in einem kleinen holzhaus wohnen 14 karelier, fischersleute, die evakuiert wurden. sie wohnen frei und bekommen 10 finnische mark pro tag. h[ella] w [uolijoki] meint, sie kommen damit gut durch. aber sie sehen keine zukunft, das parlament berät über ihr schicksal.
wir sind sehr schläfrig; wahrscheinlich von der ungewohnten luft. der birkengeruch allein ist berauschend und auch der holzgeruch, unter den birken gibt es reichlich walderdbeeren, und auch das sammeln macht die kinder müd. ich fürchte, daß das kochen für helli schwierig wird, es ist nötig, den ofen zu heizen, und das wasser ist nicht im haus. aber die leute sind sehr freundlich, und h[ella] w[uolijoki] weiß unzählige geschichten.
8.7.40
es ist verständlich, daß die leute hierzulande ihre landschaft lieben. sie ist so sehr reich und zeigt großes gemischt. die fischreichen gewässer und schönbäumigen wälder mit ihrem beeren- und birkengeruch. die ungeheuren sommer, über nacht einbrechend nach unendlichen wintern, eine starke hitze nach einer starken kälte. und wie der tag verschwindet im winter, so verschwindet im sommer die nacht. dann ist die luft so kräftig und wohlschmeckend, daß sie fast allein sättigt. und welch eine musik füllt diesen heiteren himmel! beinahe unaufhörlich geht wind, und da er auf viele verschiedenen pflanzen trifft, gräser, korn, gesträuche und wälder, entsteht ein sanfter, an-und abschwellender wohlklang, der kaum mehr wahrgenommen wird und dennoch immer da ist.
19.8.40
die sauna des gutes ist ein kleines viereckiges holzhaus am fluß. durch das auskleidezimmerchen kommt man in den kleinen, dunklen baderaum, der von einem riesigen steinofen beherrscht wird. man nimmt den holzdeckel ab und gießt aus einem danebenstehenden großen eisentopf heißes wasser über faustgroße runde steine, die direkt über dem feuer gehäuft sind. dann klettert man ein paar stufen hoch auf eine holzestrade, wo man sich niederlegt. wenn der schweiß ausbricht, peitscht man die offenen poren mit birkenwedeln, und dann geht man auf den steg hinaus und steigt in den fluß. klettert man wieder hoch – das kühle wasser erscheint einem nicht kalt –, läßt man birkenblätter zurück. auch nachts, im bett, findet man einige. ›man schläft mit der birke‹, sagt h [ella] w[uolijoki]. die finnischen soldaten bauten saunas selbst in der vordersten stellung.
24.9.40
h[ella] w[uolijoki] liest eben den PUNTILA und scheint sehr erschrocken. er ist nicht dramatisch, nicht lustig usw. alle personen sprechen gleich, statt verschieden wie im leben und in h[ellla] w[uolijoki]s stücken. solche partien wie das gespräch des richters mit dem advokaten in der küche sind langweilig (man weiß das in finnland) und führen die handlung nicht weiter. kalle ist kein finnischer schofför. die gutsbesitzertochter kann nicht vom schofför geld borgen wollen (wohl aber ihn heiraten wie in h[ella] w[uolijoki]s stück), alles ist zu episch, um dramatisch zu sein. dazu wird noch viel kommen, und man kann zwar vermittels der logik nachweisen, wie unrealistisch die naturalistische schablone oder die landläufige familienblatt-psychologie ist, auch baufehler usw, aber nicht, daß etwas lustig ist oder sublime prosa. dabei ist es wünschenswert, daß h[ella] w[uolijoki] nicht den mut verliert, das stück für das richterkomitee zurechtzumachen, abends sprachen wir darüber, und es gelang mir, in einigem beruhigend zu wirken. ich brachte vor, daß allzuviel spannung mir nicht erwünscht scheint, da man mit gespannten bauchmuskeln nicht gut lacht, daß die fülle und vitalität des puntila nicht nur in einer großen suada, sondern auch im reichtum des gestischen gestaltet werden kann, und daß es nicht einmal für die finnen langweilig sein muß, beschrieben zu hören, was ›sie wissen‹. so klug und bescheiden h[ella] w[uolijoki] ist und so begierig zu lernen, war es mir doch nicht möglich, ihr etwa begreiflich zu machen, daß der gang und habitus der szenen bei mir gang und habitus des puntila in ziellosigkeit, lockerheit, in seinen umwegen und verspätungen, wiederholungen und unpäßlichkeiten nachmacht. die frauen von kurgela will sie früher kommen lassen, gleich nach der einladung, damit das publikum sie nicht vergessen hat. sie sieht nicht die schönheit darin, daß sie eben schon beinahe vergessen sind, vom publikum wie von puntila selber, und dann auftauchen, so lang nach dem morgen, an dem sie eingeladen wurden. auch darin, daß eigentlich niemand eine besondere fortsetzung erwarten wird, wenn puntila sie an diesem schönen morgen eingeladen hat, da ja die einladung alles ist und das kommen nur den mißbrauch darstellt.
3.10.40
h[ella] w[uolijoki] verkauft marlebäk. der betrieb wird immer schwieriger. da kein benzin verkauft wird, kehrt die landwirtschaft zu pferd und menschenkraft zurück, und die hauptstadt hat sich in die entfernung zurückgezogen, die sie gegen ende des vorigen jahrhunderts hatte. der milchtransport zur bahn wird ein problem, er nimmt 4 stunden statt eine halbe. das personal reicht nicht mehr aus, und mehr leute zu füttern, ist fast unmöglich. der wert des guts ist gestiegen, seit die deutschen durchfahrtsrecht nach norge erhalten haben, was vorige woche geschah.
h[ella] w (uolijoki] ist nun sehr zufrieden mit dem PUNTILA. beim übertragen ins finnische, sagt sie, habe sie gesehen, daß das stück sehr reich und puntila eine nationale figur geworden sei.
Brecht, Bertolt. Arbeitsjournal 1938–1955. Herausgegeben von Werner Hecht, Suhrkamp, 1973




Regie: Antú Romero Nunes
