Die Bonner Kulisse

Über die Bonner Uraufführung von BURGTHEATER und Elfriede Jelineks Verständnis von Komik

© Tommy Hetzel

1985 feierte Elfriede Jelineks BURGTHEATER im Werkraum der Bühnen der Stadt Bonn seine Uraufführung. Das Bühnenbild war wiederum dem einer Burg-Inszenierung von Johann Nestroys DER ZERRISSENE nachempfunden. Und eine Besucherin der Premiere war die damals 14-jährige Caroline Peters, die wegen der Grausamkeiten des Stücks irgendwann aus dem Theater flüchtete. Ob das deutsche Publikum Jelineks Text wirklich verstand? Die österreichische Literatur- und Theaterkritikerin Sigrid Löffler ist da eher skeptisch. 

Zur Uraufführung in Bonn

Aus der Physik kennen wir das reziproke Quadratgesetz, auch Abstandsgesetz oder Gesetz der quadratischen Entfernung genannt. Dieses physikalische Gesetz besagt, dass sich eine physikalische Intensität oder Dosis umgekehrt proportional verringert mit dem Quadrat ihrer Entfernung von der Strahlenquelle. Das weiß jeder altmodische Fotograf, der noch mit dem Lichtmesser hantiert, aus eigener Erfahrung. Denn wenn man das Licht als Beispiel nimmt, so lautet das Gesetz: Die Kraft des Lichts nimmt umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung von der Lichtquelle ab. Je weiter die Lichtquelle entfernt ist, desto geringer die Lichtstärke, die Leuchtkraft.

Für den Theaterskandal BURGTHEATER gilt genau das Umgekehrte. Je weiter entfernt seine Skandalquelle, desto größer seine Skandalkraft. Die Skandalkraft verstärkt sich mit der Entfernung vom Skandalort. Für diesen Theaterskandal ließe sich also das Gesetz aufstellen: Seine Kraft nimmt mit der Entfernung nicht ab, sie nimmt vielmehr proportional zum Quadrat der Entfernung von der Skandalquelle zu. Minimale Skandalkraft im Quellort Bonn, maximale Skandalkraft im weit entfernten Wien.

Die Skandalquelle am 10.11.1985 war der Uraufführungsort, die winzige Werkstattbühne des Bonner Städtischen Theaters, mit ihren paar Dutzend Zuschauern. Die Uraufführung ging, soweit ich mich erinnere, ohne sonderliche Publikumsaufregung vonstatten und zu Ende. Das Premierenpublikum hatte stoisch beigewohnt, aber außer viel Gehampel, Gestrampel und Getöse nicht viel mitgekriegt und schon rein sprachlich wenig verstanden. Es blieb herzlich unbeteiligt, schüttelte sich und ging ungerührt nach Hause.

Deutsche Theatergänger waren schon vor dreißig Jahren ziemlich abgebrüht und kaum zu erschüttern, schon gar nicht durch exzessive Lebensmittel-Vernichtung auf der Bühne. Die Schinkenfleckerln, mit denen da auf der Bühne herumgeschweint wurde, waren ja nur die harmlose Vorhut der späteren Castorfschen Kartoffelsalat-Orgien auf der Berliner Volksbühne. Mit BURGTHEATER hatte das Bonner Publikum ein wienerisches Exotikum vorgesetzt bekommen und es kühl konsumiert, da ihm jeglicher Kontext dazu vollkommen fehlte. Es war ein sonderbar deplatzierter Abend, der trotz allem bemühten Radau auf der Bühne wirkungslos verpuffte. 

Den deutschen Theaterkritikern erging es nicht viel anders. Sie verstanden nur Bahnhof. Und manche waren ehrlich genug, das auch einzuräumen. Was sie allerdings nicht daran hinderte, Kritiken zu schreiben und ein Stück und eine Aufführung zu beurteilen, für die ihnen jeder Begriff fehlte. Die Begriffe allerdings, die jedem Deutschen sofort einfallen, wenn sie sich mit unverständlichen österreichischen Abartigkeiten konfrontiert sehen, fielen naturgemäß auch den Kritikern sofort ein und kamen prompt zur Anwendung: „Schmäh“ und „A Hetz“.

In der Rezension der Zeit – naturgemäß mit dem Titel A HETZ – konnte man lesen, der Kritiker habe bereits bei der Lektüre des Stücks vor der Sprache kapituliert. Er hielt den Text für ein absolut unverständliches Kunst- und Über-Österreichisch – „etwas schwieriger zu lesen als Flämisch, wenn auch gewiss etwas leichter als Finnisch“. Der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tappte ebenso im Dunklen und zog für sich ein ganz persönliches Resümee: „Die Erkenntnisse, die sich aus den Figuren, Situationen und Texten, kurz: aus dem Stück gewinnen lassen, sind minimal.“

Und die Kritikerin in Theater heute legte ehrlicherweise ihre Rezension von vornherein als Ausflug ins Gelände der völligen Unbegreiflichkeit an. Sie hatte keinen Schimmer, worum es hier ging, und konnte sich über die Schauspieler da oben nur wundern: „Hier scheint jeder zu wissen, wovon er spricht.“ Immerhin hatte sie den Untertitel des Stücks wahrgenommen – „Posse mit Gesang –, konnte also wenigstens mit dem Genre-Begriff etwas anfangen. Also schrieb sie: „Die Inszenierung setzt auf die Posse. Es bleibt undeutlich, was da derartig lächerlich gemacht wird. Was ist das für eine Geschichte, die dargestellt wird? Ich verstehe nichts. Fast kommt durch das Österreichische etwas Bekennendes ins Spiel, fast etwas wie Sendung – und ich weiß nicht, was gesendet wird.“

Sie wussten allesamt nicht, was gesendet wurde, die deutschen Kritiker-Kollegen. Sie hatten keine Ahnung, worum es ging. Sie kannten weder Raimunds ALPENKÖNIG noch die Preisrede des Ottokar von Horneck aus Franz Grillparzers KÖNIG OTTOKARS GLÜCK UND ENDE, die im Stück ihre böse karikierten Auftritte haben, geschweige denn
das exquisite Programm des Bellaria Kinos hinter dem Volkstheater. Kein Kontext, nirgendwo. Allenfalls wussten sie vom Hörensagen, dass es eine Theaterdynastie namens Hörbiger-Wessely geben soll. Diese blanke Unkenntnis hat die deutschen Kritiker allerdings nicht daran gehindert, BURGTHEATER in der Kritiker-Umfrage der Zeitschrift Theater heute als „Bestes deutschsprachiges Stück des Jahres" zu nominieren. Hat uns das überrascht? Nein, natürlich nicht.

Auszug aus: Sigrid Löffler: Umkämpfter Kulturmythos. Zur Kampagne gegen Elfriede Jelineks Posse Burgtheater. In: Pia Janke / Teresa Kovacs / Christian Schenkermayr (Hg.): Elfriede Jelineks Burgtheater – Eine Herausforderung. Wien: Praesens Verlag 2018, S. 447–454.

Elfriede Jelinek: IM SPRECH-BUS (2024)

Meine Französischkenntnisse kommen aus früher Kindheit, von den Nonnen des Ordens Notre Dame de Sion. Keine Muttersprache, eine Kindersprache eigentlich, die mir inzwischen leider abhandengekommen ist. Französisch ist gegangen, die französischen Farcen von Feydeau und Labiche sind geblieben und haben mir abverlangt, eine mir verlorene Sprache wieder zurückzuholen. Da mußte ich lange schreiend hinterherrennen. Ungefähr so, wie in diesen genialen Stücken, den direkten Vorläufern der amerikanischen Comedy Capers mit ihrer Slapstick-Komik, die zu einem großen Teil maschinell, durch Filmtricks, zu erzeugen war, während die französischen Komödiendichter das noch allein den begnadeten Körpern der Protagonisten abverlangt haben. Ein Herr, in einer Doppelrolle als Diener, mußte hinter die Bühne rennen, sie queren, auf halber Strecke hat ihm ein fast ebenso genialer Garderobier einen Teil seiner Kleidung heruntergerissen und das, am Rücken mit Stahlklammern zu schließende Gilet eines Kammerdieners buchstäblich an den Leib geworfen, geclippt, und schon konnte der Eine als der Andre, der aber wiederum der Eine war, auf der andren Seite wieder auftreten, als ein Anderer. Hoffentlich hat er nicht zu sehr geschnauft, was aber für einen Diener recht glaubhaft gewesen wäre.

Mir wird klar, daß das auch viel mit meinem eigenen theatralen Verfahren zu tun hat, wo es überhaupt egal ist, wer der eine und wer der andre ist, sie sind Sprache, die sich selbst entlarvt und in irgendwelche Personen hineinschmeißt, wie der Herr ins Gilet seines Knechtes und umgekehrt. Manchmal wird einem auf der Bühne die Sprache auch nachgeworfen, in der Hoffnung, etwas zu treffen, nicht aber um Gottes willen den Darsteller, der ja noch weitermachen soll.

Sehr wichtig ist die Behandlung der Sprache, sie ist als eine Art Kunstsprache zu verstehen. Nur Anklänge an den echten Wiener Dialekt! Alles wird genauso gesprochen, wie es geschrieben ist. Es ist sogar wünschenswert, wenn ein deutscher Schauspieler den Text wie einen fremdsprachigen Text lernt und spricht.
Aus BURGTHEATER von Elfriede Jelinek

Diese Beschäftigung mit Komik, mit Pointen, die nicht nur in der Darstellung auf der Bühne liegt, sondern in einer Sprache, die, gerade weil immer irgendjemand hinter einem andren herrennt, der seine Sprache womöglich vergessen haben könnte, oder weil ein andrer, was bei der derzeitigen political correctness beinahe undenkbar ist, aus einem Wasserglas trinkt, in dem davor die silberne Gaumenprothese eines Menschen geschwommen ist, der an einer offenen Gaumenspalte leidet, die, wenn der arme Mann seine Verschlußkappe für das Sprechwerkzeug, den Mund, den Gaumen nicht findet, zu unglaublich komischen sprachlichen Verrenkungen und Mißverständnissen führen muß, sodaß, wieder auf ganz andre Weise, die Sprache in ihrer unfreiwilligen Verzerrtheit und Verbogenheit, die wieder ganz andre Wörter produziert als jene, die eigentlich gesagt werden sollen, aua!, so, jetzt ist es passiert: Bei "eigentlich" bin ich leider ausgestiegen aus dem Sprech-Bus, macht ja nichts, ich muß das ja nicht auf einer Bühne deklamieren, also, was wollte ich sagen, das ich nicht sagen konnte (ich wollte hier auch die Schrecken des Theaters kurz aufrufen, wenn einer auf der Bühne steht, etwas sagen muß, aber den Text vergessen hat)? Ich wollte ungefähr sagen: Mißverständnisse entstehen aus einer Krankheit des Mundes, und sie sind dann aber das Eigentliche, auf das es ankommt. Eine Sprache, die eine andre ist, als sie sein soll, spricht für sich, aber nicht in Glossolalie, sondern in einer Verdrehung, Beugung des Gemeinten, das vielleicht gar nicht so gemeint war, und damit wird die Sache brüchig. Sie wird brüchig für mich, die ich diese französische Sprache nicht mehr beherrsche und aus Bruchstücken, Fetzen, Erinnerungen aus der Kindheit neu konstruieren muß, um sie in meine eigene Sprache zu verwandeln, und brüchig ist sie auch in der Originalsprache, bei der genausowenig das sogenannte Richtige aus dem Mund eines Gaumenlosen hervorkommt. Es quillt also etwas heraus, das die Sprache und ihre Begriffe als Medium der Mitteilung sofort wieder anarchisch unterläuft. Keine Unterredung, keine Verabredung mehr (man würde sich schon bezüglich Datums und Uhrzeit nicht einig werden können, Verschiebungen wären ein unlösbares Problem), keine Verständigung mehr möglich. Was sagt der deutscheste der deutschen Philosophen dazu? Er sagt: „Sprache befördert das Offenbare und Verdeckte als so Gemeintes nicht nur erst in Wörtern und Sätzen weiter, sondern die Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene.“ Und wäre das nur eine Theaterbühne, es wäre schon alles, was die Sprache halt auch brauchen kann (sie kann ja alles verwerten!), und was neben uns auf der Welt existiert. Und das ist schon alles, weil alles andre auch alles sein kann, nur anders. Wo keine Sprache ist, egal, wem sie gehört, da ist keine Offenheit des Seienden – ich sage hier einmal des Auftretenden – und daher auch keine Offenheit des Nichtseienden, das dann eben nicht sein kann, das Leere kann es aber auch nicht. Das kanns doch nicht sein! Es kann nicht sein, weil alles schon ausgesprochen worden ist. Kommen Sie morgen wieder, da wird auch irgendwas, hier oder woanders, gesagt werden. Seien Sie dabei oder nicht: Es wird gesagt werden, lassen Sie sich das gesagt sein!

Anläßlich der Verleihung des Rangs Commandeur de l'Ordre des Arts et des Lettres am 14.4.2024

DIGITALES PROGRAMMHEFT

Elfriede Jelineks BURGTHEATER – sechs Räume, sechs Kapitel, eine Inszenierung

NÄCHSTER RAUM

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