EPILOG
Elfriede Jelinek: DAS WÄRE JA GELACHT! (2024)
Ich bekomme hier eine Ehrung, für die ich mich herzlich bedanken möchte.
Mit leerem Kopf starre ich derweil auf die Katastrophen der Welt. Wie soll ich da mit einer Schärpe herumwandeln, die sich um meinen Körper biegt, als könnte sie ihn zusammenhalten, wie man „seine sieben Zwetschgen zusammenhält“, was das Kind öfter gehört hat, wenn es den Turnsack vergessen hat. Es ist überhaupt schwer, Menschen zusammenzuhalten, ohne sie als Masse zu sehen. Und oft sind es fröhliche Massen, die, zum Beispiel bei Sportereignissen, zusammenkommen; da mußte ich doch gleich ein eigenes Stück drüber schreiben, ein Sportstück, der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hat mit einem Fußballmatch begonnen, an dem sich der Haß entzündet hat, ein Feuer, aber kein bengalisches. Und auch auf österreichischen Plätzen steppt der Bär und trampelt vieles nieder. Tanzen ist nicht so die Spezialität der Zuschauer, aus denen buntes Flackern und Wabern schlagen, ob sie sich nun freuen oder ärgern. Anschließend werden sie in einem Kessel eingeschlossen, aber nicht gekocht. Sie wollten nicht indigene Völker missionieren, sondern nur das Ihre als das einzig Wahre und Gültige feiern oder anspornen, falls ihnen noch immer zu wenig gefeiert wurde.
Ich höre und sehe das lustige Geschrei Halbwüchsiger, die eine israelische Flagge von der Mauer des Jüdischen Stadttempels reißen und höre das hysterische Kreischen (im Maschinengewehr-Staccato) einer jungen Frau, die sie dabei anfeuert, als ginge es direkt zu einem lokalen Derby. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Die Frau kann sich vor Lachen kaum halten. Es ist schon länger so weit, daß auch Sport einem Angst machen kann, daß ostentative Sorglosigkeit einem die größte Sorge macht.
Es ist eben diese Leichtherzigkeit (ich weiß halt kein andres Wort, das es besser treffen würde), die auch zum unmenschlichsten Vorgehen gehört, eine riesige emotionale Glocke, die über allem liegt und alles zu bösartiger Harmlosigkeit und wütender Unschuldigkeit zusammenfaßt, wie die Simpsons, die sich plötzlich, wegen Umweltverbrechen, ausgelöst von einem Schwein, mit allen ihren Mitbewohnern unter einer riesigen gläsernen Käseglocke wiederfinden, die ein andrer berühmter Österreicher, Herr Schwarzenegger, über sie alle gestülpt hat. Daß das hat passieren können, hat sie denn doch ein wenig erstaunt und sie, die Simpsons, bedroht von einem wütenden Lynchmob, von ihrem Springfield bis nach Alaska getrieben.
Wir geraten oft in die größte Verlassenheit, je größer die Menge um uns herum wird, um etwas zu feiern, das alles sein kann, wenn auch nicht immer Grund zur Freude. Diese Verlassenheit fühlt sich geborgen in diesem Gemeinschaftsgefühl, das Schnelligkeit, Gesundheit, Fitneß, auch Dazugehörigkeit zu einer Mannschaft, der „Heimmannschaft“ signalisiert. Und wer die Bösen sind, das wissen wir auch. Jeder berechnet, allerdings nicht immer richtig, den Sieg der Eigenen, der Unsrigen, es muß einfach sein, daß sie gewinnen! Die Organisation dieser Ereignisse faßt die Menschen zusammen, die Aktiven wie die Zuschauer, und was nicht berechnet werden kann, ist nur das, was wir noch nicht unter unsere Herrschaft gebracht haben, noch nicht „bewältigt“ haben, das wir aber auch noch in den Griff kriegen werden, das wäre ja gelacht! Es wird gelacht. Die junge Frau zum Beispiel, die, vor mehr als 80 Jahren, Hitler, das Original, sprechen hört, lacht vor Freude in ihr Tagebuch, daß sie es von so weit oben, wo sie hinaufgekraxelt ist, auf eine Litfaßsäule, sie ist ja sportlich!, beobachten kann, über alle andren Körper hinweg. Sie ist nicht außerhalb, sie ist innerhalb, und sie ist vor allem: oben, während von noch höher oben das Schicksal des deutschen Volkes und die Vorsehung, daß es siegen wird (wer hätte auch vorhersehen können, daß am Schluß eben nicht gesiegt wird, nur über Millionen von Toten), aus- und aufgerufen wird. Und auch die Opfer werden wir uns noch einmal vornehmen, weil es beim ersten Mal so schön war! Doppelt hält besser. Es war doch gar nicht so schlimm. Andre haben mehr gelitten!
Die Mannschaften laufen schon aufs Feld. Es werden sicher wieder Orden verliehen werden, wenn es vorbei ist und zwischendurch auch. Alles soll belohnt werden, was man danach nicht mehr so genau gewußt haben wird. Wo ist unsre Leistung? Was können wir uns noch leisten?
Anlässlich der Überreichung des Großen Goldenen Ehrenzeichens am Bande für Verdienste um die Republik Österreich durch den Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen am 16.5.2024
Karl Kraus: DER PUNKT

Ich habe den Schlußpunkt der Burgtheaterherrlichkeit entdeckt. Den toten Punkt, über den kein Burgtheaterdirektor hinauskommt. Nichts hilft, dieser Punkt trägt an allem Schuld. Man glaubt natürlich, daß ich den „Dunklen Punkt“ meine, der jetzt im Burgtheater gespielt wird. Aber die schlechte Literatur hat das Burgtheater nicht heruntergebracht; das behaupten nur jene theaterfremden Kritiker, denen es nicht gelungen ist, ihre eigene schlechte Literatur dem Burgtheater anzuhängen. Was ich nun meine, wird man erst verstehen, wenn man sich vor die Front des Burgtheaters stellt und dort hinaufschaut, wo Apollo, bekanntlich einer der beliebtesten Götter Wiens, seinen Wohnsitz hat. Zu seinen Füßen wird man in mannshohen Lettern die Aufschrift finden:
K. K. HOFBURGTHEATER.
Punkt! Darüber komme ich nicht weg. Diesem Punkt gebe ich die Schuld, daß die künstlerische Entwicklung ins Stocken geraten ist. Aber, seien wir gerecht, er hat dafür auch schon manches Unheil verhütet. Denn wie leicht hätte es geschehen können, daß ein Wiener, der ja so lange auf ein Dach schaut, bis sich andere Wiener ansammeln und auch aufs Dach schauen, wie leicht hätte es also geschehen können, daß dieser Wiener und alle, die in gutem Glauben seinem Beispiele folgen, weiterlesen, nachdem sie mit der Aufschrift:
K. K. HOFBURGTHEATER
fertig geworden sind. Man male sich nur die Folgen aus. Die Wiener lesen weiter nach rechts, immer weiter, bis dorthin, wo der Volksgarten beginnt, und wenn nicht ein zufällig des Weges kommender Wachmann Halt ruft, kann es geschehen, daß sie von einem zufällig des Weges kommenden Einspänner überfahren werden. Da nun der Erbauer des Burgtheaters, der Baron Hasenauer, die Gefahren des Verkehrs erkannte und die Gelegenheiten der Warnung nicht überschätzte, so entschloß er sich, allen Eventualitäten vorzubauen und die Wiener durch einen nicht zu übersehenden Punkt vor den Folgen des unvorsichtigen Weiterlesens zu bewahren. Durch Wochen stemmten ein Dutzend Arbeiter an dem Stein und stanzten einen Punkt, so groß wie der Kopf eines erwachsenen Wieners. Man wäre nun versucht, in dieser Mühe ein Sinnbild des dekorativen Kretinismus zu erblicken, der um eines Schnörkels willen gegen alle Ökonomie wütet. Aber man würde damit den sozialhygienischen Wert dieses besonderen Punktes verkennen. Denn es ist erwiesen, daß sich in den zwanzig Jahren, die das neue
K. K. HOFBURGTHEATER.
steht, kein nennenswerter Unfall ereignet hat. Auf dem Franzensring sammeln sich die Leute, sie lesen die Aufschrift mit Interesse, aber sie wissen, wo sie aufzuhören haben, und gehen wieder ihrer Wege. Neugierige fühlen ein kräftiges „Zaruck!“, und die anderen bescheiden sich. Nur auf manche Passanten übt gerade wieder der Punkt eine besondere Anziehungskraft aus. Zum Beispiel auf die Burgtheaterdirektoren. Sie, die weiterlesen sollten, starren fasziniert auf den Punkt. Sie glauben, er sei eine Fügung des Obersthofmeisteramtes, und kommen nicht weiter. Sie laufen die Buchstabenreihe zwischen dem K. K. und dem dramatischen R auf und ab und finden keinen Ausweg. Ich glaube, es wäre ihr ewig Weh und Ach aus einem Punkte zu kurieren. Und es wird einmal eine Sage sein, daß ein Fluch auf dem Hause gelastet hat, an dem nicht die Akustik, sondern die Interpunktion schuld war. Man befreie die Kunst und sorge für die Sicherheit des Publikums durch Vermehrung der Wache!