Mehr: GESPENSTER

Inszenierungsfoto
© Tommy Hetzel

Ich glaube nicht, dass es einen freien Willen gibt

REGISSEUR THOMAS JONIGK IM GESPRÄCH MIT DEM PRODUKTIONSDRAMATURGEN JEROEN VERSTEELE

JEROEN VERSTEELE: Warum ist GESPENSTER für dich ein wichtiger Theatertext?

THOMAS JONIGK: Ich wollte GESPENSTER immer schon inszenieren. An erster Stelle interessiert mich das Thema Familie. Und zwar nicht Familie als ein Ort der Sicherheit, sondern des Erstickens. Im Sinne von Gertrude Stein, die geschrieben hat: „Familie ist eine Konzentration von Isolation.“ Das finde ich in vielerlei Hinsicht wahr. Man definiert sich über die Familie. Familie wird traditionell als Ort der Liebe und des Verständnisses definiert, die Realität sieht aber oft anders aus. Familie ist auch ein Ort der Gewalt, des Verschweigens und des Verdrängens. Ibsen erzählt in GESPENSTER, dass die Themen der Vergangenheit sich über Generationen hinweg bis in die Gegenwart übertragen und das Klima des Miteinanders definieren. Heute nennt man das „intergenerationale Übertragung“. Da ist Ibsen seiner Zeit weit voraus gewesen. Heute weiß man, dass zum Beispiel die verdrängte Schuld der Nazizeit von jüngeren Generationen als lastende Verantwortung und sogar als Schuld empfunden und ausgetragen wurde und wird. Das kann ich auch an meinem Beispiel bestätigen. Ich bin in den 1960er-Jahren geboren – und mit einem Schuldgefühl aufgewachsen in Bezug auf den Faschismus. Ich habe mich in Bezug auf die Aufarbeitung verantwortlich gefühlt, obwohl ich ja als Person damit gar nichts zu tun gehabt habe. Ich habe aber die verschwiegene und verdrängte Schuld meiner Großelterngeneration unbewusst übergenommen. Als Autor habe ich zunächst nur über die Nazizeit geschrieben. Mir sind Themen zugewiesen worden, derer ich mich anzunehmen hatte. Ein weiteres großes Thema in GESPENSTER ist Außenseitertum. Osvald ist ja der klassische Außenseiter, als Künstler in einer bürgerlichen Familie, aber auch als kranker Mensch.

JV: Wie würdest du Osvalds Krankheit beschreiben?

TJ: Bei Ibsen geht es um Syphilis. Das hat mich nicht so interessiert. Ich habe versucht, die Krankheit von Osvald als einen Ausdruck dafür zu sehen, dass diese Familie zugrunde geht, dass dieser Verbund keine Zukunft hat und dass hier ein Kind eigentlich ungewollt zugrunde gerichtet worden ist, dem alles zudelegiert worden ist, dem vieles verschwiegen worden ist. Osvald trägt eine so schwere Last, dass er nicht vital durchs Leben gehen kann, sondern sterben muss. Die Besetzung mit Jörg Ratjen, der ja eigentlich zu alt für diese Rolle ist, ist ein Ausdruck für diese unfassbare Anstrengung, die in der Figur des Osvald liegt. Gleichzeitig befindet er sich in der Doppelfunktion von Sohn und Vater bzw. Ehemann von Frau Alving. Auf der Bühne verschmelzen Sohn und Vater miteinander. Im Norwegischen ist der Titel des Stückes GENGANGERE, was mit DIE WIEDERGÄNGER genauer übersetzt gewesen wäre als mit GESPENSTER. Die Figuren werden so sehr von der Vergangenheit dominiert, dass sie wie Untote sind. Sie können die Vergangenheit nicht loslassen, sie werden von ihr gelähmt.

JV: Was schätzt du an Ibsen?

TJ: Henrik Ibsen ist einer der großartigsten Dramatiker. Mich ärgert es, wenn ich höre, man könne ihn nicht mehr spielen, weil seine Frauenfiguren nicht mehr zeitgemäß seien. Ibsen war sowohl politisch als auch künstlerisch progressiv und extrem mutig. Mit nicht zu zähmenden Figuren wie Frau Alving oder Nora oder Hedda Gabler war er ein absoluter Pionier und Vorkämpfer – und war natürlich trotzdem den Konventionen seiner Zeit und auch des damaligen Denkens verhaftet. Wenn es Ibsen nicht gegeben hätte, hätten es viele andere Schreibende des 20. Jahrhunderts sehr viel schwerer gehabt.

JV: Du hast die Produktion ursprünglich für das Schauspiel Köln gemacht. Was für eine Erfahrung war die Adaption für das Akademietheater für dich? 

TJ: GESPENSTER war als Übernahme aus Köln geplant, aber im Grunde haben wir eine Neuinszenierung gemacht. Es fängt damit an, dass das Bühnenbild von Lisa Dässler jetzt ein ganz neues ist, weil die Größenverhältnisse der beiden Bühnen nicht übereinstimmten. Wir haben viele Entscheidungen neu getroffen. Ich würde sagen, dass diese Arbeit eine größere Unmittelbarkeit hat, was den Kontakt zwischen Spielenden und Publikum anbelangt. Die Inszenierung ist näher an das Publikum herangerückt und das, was man als gespensterhaft an diesem Stück bezeichnen könnte, spiegelt sich noch mehr auf der Bühne, dadurch, dass viel weniger auf der Bühne anwesend ist, als es das in Köln noch der Fall war. Es ist ein zunehmend entvölkerter Raum geworden. Und dann haben wir von fünf Rollen drei neu besetzt. Dadurch ist eine neue Dynamik entstanden, die eine neue Lesart der Inszenierung ermöglicht. 

JV: Wie würdest du die Psychogramme der fünf Figuren beschreiben? 

TJ: Frau Alving ist eine sehr kraftvolle, intelligente, sinnliche und anspruchsvolle Frau, die darunter leidet, dass sie im gesellschaftlichen Rahmen, in dem sie aufgewachsen ist, überhaupt nicht die Möglichkeiten bekommt, die ihr zustehen und die sie bräuchte, um ein Gefühl von Zufriedenheit oder Erfüllung oder Kreativität zu erfahren. Innerhalb dieses Rahmens kann sie zwar zeigen, wie stark sie ist, indem sie zum Beispiel sämtliche Geschäfte von ihrem Mann übernommen hat. Sie hat aber nach außen hin dafür nie die Ernte eingefahren. Insofern implodiert ihre Kraft und findet keinerlei Ausdruck im öffentlichen Leben. 

Osvald ist ein junger Mann mit Talent und Kreativität. Er ist als Maler für einige Jahre sehr erfolgreich, zerbricht aber daran, dass er widerstreitende Stimmen in sich fühlt, die für das Verdrängte, Verschwiegene und Verlogene seiner Familie stehen. Und an denen er letztlich zugrunde geht. 

Pastor Manders sehe ich als einen sehr sinnlichen und liebenden Mann, der sich hinter der Doktrin seiner Kirche versteckt und nicht den Mut findet, sich Frau Alving anzunähern, als Partner, sogar als Ehemann. Obwohl ich den Eindruck habe, dass die beiden sehr gut zueinander passen würden. 

Regine, das Dienstmädchen, ist ähnlich wie Osvald eine Belogene. Sie ist pragmatisch, darin liegt auch ihre große Kraft. Sie hat als Ziel, aus diesem Haushalt auszubrechen und ihren eigenen Weg zu finden. Aber dadurch, dass sie in einer wirtschaftlich abhängigen Position ist, kann sie keine eigenen Entscheidungen treffen, sondern macht sich abhängig von Pastor Manders oder von Osvald, von dem sie erhofft, dass er sie nach Paris mitnimmt. Sollte es ihr gelingen, aus diesem Haushalt auszubrechen, hätte sie sicher das Potenzial, sich im gesellschaftlichen Leben durchzusetzen. Es sei denn, ihr Fatalismus greift Raum. Dann könnte es sein, dass sie selbstzerstörerische Entscheidungen trifft und zu ihrem Ziehvater Engstrand zurückgeht und bei ihm arbeitet. 

Engstrand ist eine Figur, die sich durch eine starke gesellschaftliche Zugehörigkeit auszeichnet. Mich hat es nicht interessiert, seinen Alkoholismus zum Thema zu machen. Eigentlich ist er jemand, den man als Randfigur der Gesellschaft betrachten würde. Für mich ist er ein kluger Stratege, der sehr genau beobachtet und es schafft, mit moralischem Druck und Erpressung seinen Weg zu gehen. Er ist ein kluger Geschäftsmann, der in dieser Konfliktsituation am besten wegkommt.

JV: Dem Stück liegt die Frage, inwiefern wir Menschen freie, selbstbestimmte Wesen sind, zugrunde. Ist der Mensch heute freier als vor 150 Jahren?

TJ: Ich glaube, nein. Die starren Strukturen einer Gesellschaft, wie sie Ibsen beschreibt, machen einem immerhin sehr schnell klar, dass man an Grenzen stößt. Und diese Grenzen verdeutlichen vielleicht, was man will und was man vermisst und sucht. In unserer Welt gibt es vermeintliche Offenheit und Freiheit und Wahlmöglichkeit, die es unter Umständen sehr viel schwerer machen, den eigenen Weg zu definieren und wirkliche Entscheidungen zu treffen. Die Mittel der moralischen Manipulation, die früher meistens über Religion funktioniert haben, werden heute vom Kapitalismus und vom Konsum übernommen. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie einen freien Willen gibt – und wenn doch, dann nur innerhalb relativ fester Rahmenbedingungen. Ich glaube, und das meine ich nicht schicksalhaft oder religiös, dass wir als Menschen jeweils bestimmte Erfahrungen zu machen haben – und um die kommen wir nicht herum. Ob wir Entscheidung A oder B getroffen haben, ist fast egal. Man kommt um bestimmte Themen nicht herum, an denen hat man sich abzuarbeiten.

 

JV: Warum ist das Theater eine gute Kunstform, um sich mit diesen grundlegenden Themen des Lebens auseinanderzusetzen?

TJ: Gutes Theater hat eine unmittelbare Wirkung, da überträgt sich von der Bühne direkt etwas ins Publikum. Manchmal ist es ein Spiegel, der dem Publikum vorgehalten wird, manchmal weckt es einen Widerstand, den man in sich trägt, da etwas Befremdliches präsentiert wird, mit dem man sich auseinanderzusetzen hat. Ich glaube, Theater ermöglicht Empathie und eine Optimierung unseres Sozialverhaltens. Das Theater hat die Möglichkeit, das Menschsein so darzustellen, dass man es zugeneigt und verständnisvoll betrachtet und nicht kategorisch, nicht verurteilend, nicht moralisierend. Man lernt, dass das Menschsein eine komplizierte Angelegenheit ist – und dass wir nicht immer auf der Höhe unseres Könnens sind. Wenn man das hinnehmen kann, dann liegt darin, glaube ich, eine enorme Erkenntnis- und Lernmöglichkeit.

Gewiss hat sich seit Ibsen GESPENSTER schrieb einiges geändert: Moralvorstellungen und gesellschaftliche Konventionen, gegen die Ibsen anschrieb, haben sich gewandelt. An Affront oder gar Zensur denken wir nicht, wenn wir GESPENSTER sehen. Doch die scharfsinnige Beobachtung, dass Unverarbeitetes die Angewohnheit hat, in unheimlich vertrauter Gestalt wiederzukehren, beschäftigt Menschen und ganze Wissenschaftsbereiche bis heute. Solche Gespenster nennen wir heute Traumata und die Familie – auch wenn unter diesem Begriff heute verschiedenste Konstellationen fallen – ist immer noch der Ort par excellence für die Weitergabe ebendieser. 

Wie also funktioniert diese Weitergabe von Traumata von Generation zu Generation? Die Psychologie untersucht Wege der „transgenerationalen Traumatisierung“: Da ist zum einen die Erziehung, aber auch die Summe unserer Erzählungen. Fortlaufend geben wir unsere eigene Geschichte weiter, indem wir von Freund- und Feindschaften, Familie, von Erfolgen und Gründen für unser Scheitern erzählen. Umso faszinierender – weil rätselhafter –, dass auch das, was wir nicht erzählen, seinen Weg in die nächste Generation findet. Eingewoben in all unsere Handlungen und all unsere Kommunikation, bildet das Unbewusste eine eigene, implizite Erzählung. Sie setzt sich fort, unsichtbar – fast gespensterhaft. Im Fall von unverarbeiteten, negativen Erfahrungen führen die Kinder dann die Kämpfe ihrer Eltern weiter. Wie zeigt sich Unbewältigtes in der Gegenwart? „Die Wiederholung ist die häufigste Form. Und die Reinszenierung.“ sagt Trauma-Expertin Michaela Huber. Und das obwohl oder gerade weil die Eltern über Erlebtes schweigen. In dem Zusammenhang wird auch von „konspirativem Schweigen“ gesprochen. Dabei schweigen oft auch die Kinder, um ihre Eltern nicht zu belasten, obwohl sie spüren, dass etwas Wichtiges unausgesprochen bleibt. In der Folge können sich psychische Störungen entwickeln, die sich mit Symptomen wie einer erhöhten Stressanfälligkeit, Angststörungen bis hin zu Depressionen zeigen. 

Doch nicht nur im Unbewussten geben wir emotionales Gepäck an die nächste Generation weiter. Neurowissenschaftler:innen erforschen, wie traumatische Erfahrungen ganz konkret die Gene verändern. Tatsächlich zeigen Studien an Tieren, dass sich Angst bis in die zweite Generation weitervererbt. Und das, obwohl die Nachkommen die Angst auslösende Stresssituation nie selbst erlebt haben. Als Grund wurde die stärkere Aktivierung bestimmter Gene identifiziert, Forschende nennen dies „epigenetische Vererbung“. So verlockend es ist, die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen – so verkürzt wäre es: Die Studienlage ist beim Menschen uneindeutig, die Stichproben sind schwieriger zu finden, die Zeiträume zwischen Generationen länger und Gene und Psyche komplexer. Zum Glück, denn so sind wir vererbten Traumata auch nicht schicksalhaft ausgeliefert. Wir können transgenerationale Traumata mit Hilfe von Psychotherapie erkennen und aussprechen, das emotionale Material der Eltern neu ordnen und eine erhöhte psychische Widerstandskraft entwickeln.

GESPENSTER
von Henrik Ibsen
Regie: Thomas Jonigk

Mit: Anja Laïs, Jörg Ratjen, Norman Hacker, Sabine Haupt, Lilith Häßle
Image
Inszenierungsfoto
Zurück nach oben