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Es ist Sprechen und aus

ELFRIEDE JELINEK


Achtung! Das Vergangene findet jetzt statt! Aber beeilen müssen Sie sich nicht, das machen schon andre für Sie.
Ich möchte gern Vertrauen zu mir haben, damit ich endlich aus mir herausgehen kann. Davor schrecke ich aber immer wieder zurück und vertraue dieses Vertrauen oft Figuren auf dem Theater an. Dann bin ich auch nicht so enttäuscht, wenn sie es, wie sagt man zu einem Vertrauen?, wenn sie es mißbrauchen. Das heißt in diesem Fall, wenn sie mir zwar trauen, aber trotzdem nicht machen, was ich will. Oder sie trauen mir nicht, dann bleibt mir am Ende nur, selbst ein Vertrauen zu mir zu fassen, das mit Selbstvertrauen nichts zu tun haben wird. Das nun gar nicht. Chaos bricht aus, nein, es bricht nicht aus, es ist das, was da ist. Das Chaos ist also da, was heißt, es war da, und jetzt ist das liebe Jetzt, das ich nicht leiden kann, aber vielleicht mögen es ja andre, mögen Sie es?, hier können Sie es haben!, also da. Es rennt hier einfach frei herum, was ich dem Chaos entnommen habe. Da ist noch viel. Jeder, der einmal so ein Stück lesen mußte, weiß: Da ist zuviel, viel zuviel. Die Kunst soll jetzt endlich Ordnung schaffen, denn ich mach das nicht, das ist etwas, das mir nun wirklich wesensfremd ist: Ordnung.
Figuren treten auf, ich habe sie mir nicht ausgedacht, bei mir muß immer ein andrer sie erschaffen, ein Regisseur, eine Regisseurin, ich gebe nur mein Chaos her, meine beliebigen Erfindungen, ziemlich ungeordnet, nicht einmal Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt, ein ordentliches Chaos hat das nun mal an sich, daß nur die Natur darüber wacht, es vielleicht sogar hervorgebracht hat, und ausgerechnet in mir wollte es ans Abendlicht! Aber von Natur ist im Theater nicht die Rede, außer man redet über sie. Sie bleibt immer fern, das trifft sich gut, ich habe mit ihr nichts am Hut. Die Natur schläft derweil eine Runde, hier am Theater hat sie eben nichts zu suchen, gesucht habe schon ich, in meiner eigenen Natur herumgesucht, in der aber das liebe Chaos regiert, das sich zu nichts entscheiden kann. Verzweifelt rühre ich darin rum, da wird doch was zu erwischen sein!, irgendwas muß doch da sein!, aber es ist mir dann einfach zuviel, das auch noch Menschen auf der Bühne zuzuteilen. Das Wort Zugeteilter habe ich nur einmal in meinem Leben, und zwar im Zusammenhang mit Diplomatie, gehört. Sofort mußte ich an einen Menschen denken, der zerschnitten und auf Teller aufgeteilt wird, für jeden Esser eine Portion oder eine halbe.
 

Burgtheater-Ankündigungsbild zum Jubiläumskongress 2013
Es ist Sprechen und aus. Bei mir: noch lange nicht aus.

Das Theater zerteilt das Chaos, indem es dieses Ungeordnete irgendwelchen Personen zuteilt. Meine Vorstellung von Ordnung schaut sowieso anders aus. Da hätte ich so schöne Wirklichkeit überall, ringsumher, die schreit geradezu nach Vereinzelung, denn wenn nichts vereinzelt wird, kann der Einzeller dort oben nicht sprechen, dann bekommt der Schauspieler kein Deka, keinen Millimeter Rede zugeteilt. Er muß alles selber machen. Er wird angeleitet, nicht angeleint, bloß angeleitet, aber am Ende des Tages, das man Abend nennt, muß er letztlich doch alles wieder selber machen. Doch, wie gesagt, die Ordnung ist mir wesensfremd, es ist nie meine. Keine Ahnung, wem die Ordnung gehört. Die dort oben, die das Gegenteil von Obrigkeit sind, machen das schon. Ich kann es nicht ertragen, wenn ein Schauspieler, eine Schauspielerin etwas sagt, das ihr, ihm zugeordnet werden kann, obwohl es den Schauspielern zugeteilt werden mußte. Es mußte ihnen vorgelegt werden, damit sie Sie hereinlegen können. Keine Figur ein Treffer, keiner trifft eine Figur, wir sind ja nicht am Schießstand.
So entsteht Suppe, nicht Ursuppe, gewöhnliche Suppe, in die Buchstaben aus Teig geworfen werden, die nichts erweicht außer der Hitze, die ihnen gespendet wird (oder die sie in sich, jede, jeder seine eigene Thermosflasche, mit sich führen). Es ist ein heißes Chaos, aus dem das alles kommt, und das sollte bewahrt werden oder immer neu hervorgebracht, je nachdem. Es klafft auf, das Chaos, und spuckt etwas aus, aber Menschen sind es nie. Es ist Sprechen und aus. Bei mir: noch lange nicht aus. Es dauert seine Zeit, die davor meine Lebenszeit war. Ich weiß schon: meist zu lang! Aber bitte bedenken Sie: Das Sprechen ist vielleicht dieses Chaos, aus dem ich mit meiner Charon-Stange, mit der ich das Totenfloß voranstake (denn Sprechen ist für mich: dem Tod für eine Weile entkommen oder wenigstens ein paar dorthin mitnehmen), ein paar Fetzen Sprechen herausfische, hervorstoße, Fetzen, die immer Teil eines in größten Teilen unsichtbaren, ungeordneten Ganzen sind, das nie ein Ganzes wird, denn das Ganze würde Ordnung ja voraussetzen. Es ist nie alles, es ist nicht einmal etwas. Ich hätte auch ganz andre Fetzen, andre Sätze, andre Worte nehmen können. Ich hätte immer etwas anderes nehmen können, und da sind so viele, die mich schon inständig darum gebeten haben: Bitte wenigstens einmal etwas anderes, alles, nur nicht das! Nicht schon wieder! Aber es geht nicht. Ich habe nicht die Kontrolle, ich habe vielleicht die Herrschaft über ein endloses Sprechen, das im Vergleich zum Chaos aber gar nichts ist, ein kurzes Räuspern vielleicht, aber ich habe keine Kontrolle. Es geht mit mir durch, wie man so sagt. Oft weiß ich selbst nicht, was ich da gesagt habe. Ich weiß nur, ich hätte es nicht mit anderen Worten sagen können. Bitte um Entschuldigung, an dieser Stelle kann ich mich endlich entschuldigen, daß ich nicht etwas anderes gemacht habe als das, was ich da halt wieder gemacht habe. Es besteht nur durch sich selbst. Es hätte gut etwas anderes sein können, aber soviel Glück haben Sie nicht! Wie hätten Sies denn gern? Etwas, das vielleicht weniger gierig nach Mehr aufklafft, sodaß man es nicht gleich merkt, und das Mehr bekommt es bei mir schließlich immer. Ihnen bekommt das oft nicht, ich weiß schon. So aus dem Chaos etwas heraussschöpfen, das, indem es auftritt, schon etwas ganz andres sein könnte und vielleicht auch sein sollte, das Gewähren von Anwesenheit von Wesenheiten (nicht von Wesentlichem!) und Sprechen für die Schauspieler, hat keinen Wirklichkeitsvorrat, aus dem das Gewähren schöpfen könnte, und so stellt sich das Ergebnis dann auch dar. Ein Darsteller mehr! Selbst wenn es wirklich ist, kann es nicht wirklich sein, weil es ja aus dem Allen, nein, nicht aus dem All, sonst würden Sie es ja nicht wiedererkennen, Sie hätten es nie gesehen!, sondern aus Allem kommt, das ungeordnet war und ungeordnet bleibt. Mein Sprechen auf der Bühne ist kein Ordnen, nicht einmal ein Her-Stellen, ein gutes Chaos ist eben beides, es führt das, was war, was mir eingefallen ist, meinetwegen, zu dem, was ist, was jeden Abend, an dem das aufgeführt wird, sich eben aufführt, auf der Bühne, dort wird das eine dem andren zugeführt. Da wird das, was war (der Text zu diesem Stück ist bis dahin, aber welches Stück meine ich dann, immer ein anderes, obwohl es jeden Abend dasselbe ist?, ja längst geschrieben), das, was war, wird also zu dem, was ist. Es ist eine Zusammenführung, gegen die die Zusammenführung der beiden Deutschlands ein Dreck war. Es stürzt die Vergangenheit jeden Abend auf der Theaterbühne in das, was ist, hinein und schmeißt es mit sich selbst um. Eine Wucht! Ein gesetzloses Ereignis zwischen Gesetzten (nicht in dem Sinn, daß das gesetzte Leute wären, sondern daß sie gesetzt wurden, nein, auch nicht hingesetzt, gesetzt wie Jetons oder so, oder vielleicht wie beim Pferderennen?) und Wilden, Verlorenen, die halt auch da sind, obwohl ich sie nicht erfunden habe. Die da sind, bevor sie endgültig, aber nie gültig, verlorengehen.

Die Texte fressen die Schauspieler auf, welche sie aber schon vorher gefressen haben, um sie wieder ausspucken zu können.

Jedes Mal schmeißen sie es mir um, aber gerade das interessiert mich dabei (obwohl ich seit Jahren keins meiner Stücke mehr am Theater gesehen habe), es findet trotzdem statt, und ich weiß, daß es wieder einmal so ein Abend ist, an dem das Alte meiner vergangenen Sprache mit Figuren, die grade auf der Bühne stehen, zusammenstößt. Wer wird diesmal überleben? Das Theater erwacht zum Leben, sagt man bei besonders gelungenen Auführungen, bei mir wird Leben verbraucht, vielleicht völlig sinnlos, (bei "anständigen" Stücken natürlich sinnvoll, aber ein Verbrauch ist es immer). Und nicht, was übrigbleibt, interessiert mich, sondern der Verbrauch an sich. Daß das Jetzt vernichtet wird, unaufhörlich, das interessiert mich!, denn was jetzt gesagt wird, ist einen Augenblick später schon ewig, wenn auch nicht für die Ewigkeit, gesagt worden. Das Theater ist Verbrauch, nicht nur meiner Lebenskraft, sondern Verbrauch an sich, es wird ja auch die Lebenskraft der Schauspieler verzehrt von etwas Gefräßigem, das von meinem Chaos übrigblieb, bei einem Chaos ist es wurst, ob alles weg oder alles noch da ist; die Texte fressen die Schauspieler auf, welche sie aber schon vorher gefressen haben, um sie wieder ausspucken zu können, ja, hierher, auf die Bretter, da liegt eh schon so viel herum, daß es für zehn Danaergeschenke reicht, wenn man die Bretter noch dazunimmt, da fällt das gar nicht auf. Ein bisserl mehr geht immer. Und die, die auftreten, die noch auftreten werden, die Zukünftigen, werden genauso verbraucht werden wie die, die ihren Text schon aufgesagt haben. Man hat sie oft mühevoll in eine Figur gezwängt, eingenäht in ein Raubtier, wie die sechs minus einem Geisslein (das dann eine größere Rolle übernehmen darf als seine Geschwister), die auf einmal, völlig überraschend, Steine waren und sogar einen Wolf täuschen konnten, bis der den Abgang in die Versenkung gemacht hat. Oder all die Krieger (einer von ihnen wird schon im Vorhinein von Odysseus erstickt, damit er seinen Text nicht mehr bringen kann), die, hineingezwängt in das Trojanische Pferd, hinter dieser rasch, in nur drei Tagen, zusammengeschusterten Kulisse auf ihren Auftritt warten: Gleich werden sie, mitsamt ihren Kollegen im Chor, aber nicht als Chorknaben, über die Stadt herfallen! Doch diese, jede Hülle platzt auf (als wäre das Chaos nicht schon groß genug oder als wäre es nicht klein genug!) und gibt etwas frei, das im Augenblick des Sprechens aber schon wieder verschwunden ist. Kein Wunder, etwas Befreites flüchtet ja sofort, wenn möglich. Entgeht man so dem Verfall, dem Vergessen, dem Gewesensein (dem Gewese bei mir sicher nicht, das wird zuverlässig jedes Mal erledigt, das Gewese, das ich mache, das muß säuberlich und säuerlich abgearbeitet werden!)? Vielleicht kann man es so sagen: Indem die Natur, die vom Theater unvollkommen nachgeahmt wird, endlich erwacht (eine Natur, die es bei mir nicht gibt, aber vielleicht das Wesen der Natur: den Überfluß? Das Überflüssige, danke, daß Sie mich dran erinnern!), kommt ihr Kommen, kommt das Kommen dieser Menschen, die meine Texte sprechen, als das Zukünftigste aus dem ältesten Gewesenen hervor (und so spricht auch der Denker immer wieder aus mir hervor, nur leider völlig falsch, oder bin ich hier falsch?, weil man die Denker anders verstehen muß, vielleicht gar nicht), als ein Gewesenes, das nie veraltet, weil es seiner Natur nach immer das Jüngste ist, eigentlich das Letzte, das letzte, das entstanden ist und jeden Abend — das Letzte wird das Erste sein — wieder neu entsteht und stattfindet (aber an wessen statt? Anstatt des Autors? An meiner statt?), als wäre es eben erst geboren, jeden Tag neu, ohne "wie neu geboren" zu sein oder sich so zu fühlen, wie man so sagt. Ja, eben weil es da ist, weil es halt da ist, findet es statt, fühlt aber nichts. Es könnte auch was andres sein, das ist ihm völlig klar, und dahinter könnte man etwas völlig anderes verstehen. Oder was haben Sie gedacht? Was ganz andres? Haben Sie etwa etwas anderes gedacht? Hallo! So, jetzt ist es weg, was immer es war. Nein, zu mir ist es nicht zurückgekommen. Gebrauchte Ware nehme ich nicht mehr zurück. Jetzt haben Sie es, aber durchsuchen werde ich Sie nicht. Da müßte ich ja Sie, die Zuschauer, in Kauf nehmen, in Zahlung, etwa an Kindes statt?, nein, das denn doch nicht. Sie haben es, Sie behalten es, Sie schmeißen es weg. Mir ist alles recht.
 

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