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AUF DEN SPUREN DER KUH - eine kurze Chronik aus der antiken Zukunft

Maxi Obexer

Bis zum 31. Januar 1939 sollte die Bevölkerung in Südtirol entscheiden, ob sie sich ans "Vaterland" anschließen, oder bei Italien bleiben wollte; die Mehrheit sprach sich fürs "Heim ins Reich" aus. Wahlberechtigt waren Männer, die für ihre Frauen und ihre Kinder stimmten. Eine Gruppe wurde allerdings übersehen: die volljährigen und nicht verheirateten jungen Frauen hatten zwar keine Stimme, aber sie hatten dennoch die Wahl; sie blieben und gingen ihre eigenen Wege. Eine Episode, die auch heute noch keinem Historiker aufgefallen ist - oder nennenswert erschien.

MAGD

Wenn du dir deinen Helm überziehst, spielt sich vor deinen Augen schon die Schlacht ab, wie in einem Rundgemälde. Und wenn du aus dem Bett steigst und dir die Stiefel anziehst, wirst du nicht gehen, du wirst marschieren. Du wirst der Katze, die sich an dein Bein schmiegt, einen leichten Stoß verpassen. Sie wird sich wundern, so kennt sie dich nicht. Du wirst dem Hund hart auf dem Kopf tätscheln, härter als sonst, und du murmelst: "Für Euch tu ich’s, zur Verteidigung." Der Hund tätschelt schwach mit seinem Schwanz auf den Steinboden im Flur. Du wirst einen Blick zurückwerfen auf mich, jetzt stahlgehärtet und sagen: "Für dich geh ich, zum Schutz." Und wenn ich schmunzle, wie du mich kennst, wirst du nicht zurückschmunzeln, wie ich dich eben noch kannte. Du wirst strammstehen und deine Hacken zusammenschlagen und sagen: "Ich folge."

"Ich bleib", hab ich geflüstert. An der hölzernen Außentreppe sitzen wir und sehen dir nach, wie du über das Feld – marschierst, und denken: "Was hat er nur?" Niemand von uns dreien erkennt dich wieder. Du wirst marschieren, wie einer, der zum Kampf muss, du wirst die Turmglocke hören wie eine Sturmglocke, wie einer, der sich von ihr gerufen fühlt. Und wir werden uns wundern. "Wohin geht der nur und wohin?" Er will den Krieg holen oder einholen. Es gibt doch gar keinen Krieg. Jedenfalls nicht hier. Noch nicht.

Deshalb nimmt er ja den Zug. Du nimmst zum ersten Mal überhaupt den Zug und fährst, zum ersten Mal ins Ausland, du nennst es "Heim ins Reich" oder "Vaterland", auch zum ersten Mal, und fährst dem Krieg hinterher, um nur ja nichts zu verpassen. Wir, die Katze, der Hund und ich, gehen in den Stall zu den Kühen.

Etwas will mir nicht in den Sinn, während ich meine Stirn gegen das warme Euter der Kuh drück: "Wie laut kann der Ruf der Toten aus dem Totenreich sein, dass ihr euch freiwillig zu Hundertschaften in den Zug zwängt?"

Und noch beim Milcheingießen seh ich euch, wie ihr zurückkommt, wenn! ihr je zurückkommt. Fetzen an den abgemagerten Knochen, und dein früherer Ausweis noch weniger wert als ein Fetzen: du bist jetzt ein Geflüchteter und Staatenloser hier, wo du einmal herkamst. Als ein Nichts bist du gegangen, weil du dachtest, das Reich würde aus dir etwas machen; mit etwas Glück kommst du zurück und bist noch weniger als ein Nichts.

"Bleib! schrei ich. Während ich den Kühen folge über den Kamm, "Bleib doch auch!", während ich runterblicke zu den Gottesäckern. Wo die liegen, die beim letzten Krieg aus den Gräben gezogen wurden, aus den Spalten und den Geröllfeldern. Kein Mensch kennt sie. Von irgendwo hergezogen und eingezogen worden, um hier oben Krieg zu führen, wo kein Mensch überlebt, und vergraben zu werden, wo nie je einer vorbeikommen wird, der sie gekannt hat.

"Bleib, auch wenn du nichts bist, hier bist du wenigstens ein Mensch der lebt!"
Hätte ich dir zurufen sollen, was ich schon kommen sah: was ja nicht schwer ist zu sehen, für den, der sehen will: die gefüllten Totenäcker noch vom letzten Krieg. Gar nicht lange her.
Und danach? Wie lange wird es danach dauern, dass sie wieder - auf Kurz oder Lang, wohl eher auf Kurz, mit einem Fetzen wedeln und es Vaterland nennen. Und wieder wird der Ruf aus dem Totenreich alles übertönen. Werdet ihr dann wieder folgen? 
Dem Vaterland - wo ist denn die Mutter. Ach so. Später dann, wenn ihr zurückkriecht, mit Tränensäcken bis zu den Knien, gehts zur Muttergottes, und auf jedes Gipfelkreuz kommt die heilige Jungfrau, für die, die nicht einmal zurückkriechen konnten.
Über wie viele Jungfrauen werdet ihr hinwegmarschieren. Wie viele werden über uns hinwegmarschieren. Hätte ich dir das zurufen sollen: "Über wie viele Jungfrauen wirst du hinwegmarschieren?"

SCHMUGGLERIN

Und lass deine Finger da wo sie sind, das ist Schmuggelware, wenn du dir das leisten kannst, bitte, gerne. Zigaretten, Zucker, Tabak, Kaffee  - alles hat seinen Preis. Aber so wie ich dich einschätze hast du nicht viel außer was? Einer großen Geschichte. Du meinst, weil du ein Deutscher bist mit einer großen Geschichte, holst du es dir sowieso? Es gibt viele Geschichten. Jedes Wesen kann dir eine ganze Menge Geschichten erzählen. Die meisten Geschichten sind leise, still, sie laufen neben der her, die sie lebt. Und dann gibt es die angeblich große Geschichte, die alles übertönt. Ich hab davon gehört. Ich weiß aber noch immer nicht, was ich mit der eigentlich zu tun hab - oder sie mit mir. 

Ich kenn die Geschichte von den "Wie soll ich's dir nur sagen". Oder die Geschichte von "Ich meinte ja nur." oder die Geschichte von "Ich bin ja schon still." Und je nachdem, in welche Himmelsrichtung du schaust, und in welche Windrichtung kommst du auf andere Geschichten. Die Leute schauen gerne auf die offene Welt hier oben, auf das Meer von versteinerten Wellen, den Millionen Bergkämmen, die sich abermillionen Mal durchkreuzen, auf das Alter der Erde in den Gesteinsschichten, alles verschachtelt und verschichtet. Und dann fängt garantiert einer von einem Reich an, ein Deutscher oder ein Italiener oder Österreicher oder ein Schweizer, will plötzlich ein Reich in diesen Geröllmassen sehen mit einer großen Geschichte, und alle anderen vor dieser Geschichte hertreiben. Hier?! - Hier doch nicht - warum denn ausgerechnet hier!? Hier, wo sich alles kreuzt? Hier, wo die Zeit sich ausdehnt und man besser eine Ahnung davon erhascht, wie groß die Zeit ist und wie klein unser Leben. Und das wollt ihr noch verkürzen?

Soll ich dir die Geschichte der Steinflechte erzählen? Sie trägt den Titel: "Ich sage dir, wie mein Stein riecht im März, wenn darauf der letzte Schnee verdampft." 
Sie sagt "mein Stein", verstehst du? Kannst du dir vorstellen, wie viele Frühlinge diese Flechte mit ihrem Stein schon erlebt hat? Und ich kann dir auch sagen, was darunterliegt, unter dem Stein: Würmer.

Das nenn ich Anschluss.

MAGD

Meine Geschichte beginnt mit: "Und seither folge ich der Kuh."
Was ich mir einbilde? Oder was ich bin? Nichts. Aber eine Geschichte habe ich dennoch, auch wenn ich nichts bin. Öffnete ich eines Tages meine Augen. So beginnt eine Geschichte, nicht? Mit dem Öffnen von Augen. Und was seh ich über mir? Ich seh das Euter einer Kuh. Ich strecke die Arme aus und was mir in die Händchen gerät, ist warm, und weich, und passt genau in die Hand eines Säuglings. Noch bevor ich meiner Mutter in die Augen schaute, sah ich einen Strahl Wasser, der unter einem ausgestreckten Kuhschwanz auf die Erde plätscherte. Gespreizte Beine, nach oben gebeugter Schwanz und ein lebendiger Wasserstrahl. Auch das nenn ich Anschluss.

Versteckt, dann weggeschickt, als sie mich entdeckten, mit der Mutter, die selbst auch schon eine Mutter hatte, die weggeschickt worden war, als sie unterwegs war. Ich entstamme der Geschichte der Mägde, die keine Geschichte haben. Dafür aber Wege, die sie geschickt finden, als sie weggeschickt wurden. Nie überlegt, warum die reichen Bauern so wenig Kinder hatten, und die armen so viele? Weil sie sich viele Mägde leisten konnten, die sie wegschicken konnten, sobald etwas begann, sichtbar zu werden, was besser unsichtbar blieb. Mit den italienischen Faschisten kamen die italienischen Fabriken und meine Mutter, verjagt und vertrieben, fand Arbeit in der Nähfabrik. Hier nähten sie, was bald die Montagsmärkte füllen wird, und dann die Boutiquen, die Kleider für eine neue Schicht, der Flittchenschicht; auch das eine Geschichte, auch die ohne Lobby.

Mich gab sie den Kühen zurück; dreijährig, und schon eine Magd unter Kühen. Sie kam manchmal an Sonntagen, doch wenn sie kam sah ich schon, wie sie wieder gehen wird. Ich versteckte mich zwischen der Kuhherde, und kam doch gelaufen, als sie meinen Namen schrie. Und rannte ihr nach, wenn sie ging, und wurde wieder zurückgetrieben. Ich sah sie aber weinen, nicht direkt weinen, aber die Hände vors Gesicht hielt sie, während sie den Hang hinunterstolperte, und ich zur Kuhherde hochgetrieben wurde. Es war ein kleiner Trost, sie weinen zu sehen. Ich hockte da und rotzte in einen Kuhfladen. 

Ich bin vorgestern die Magd, die Kuhmagd, die Stallmagd, die Hausmagd. Ich bin gestern die Schmugglerin. Ich bin heute die Näherin in der Fabrik. Ich bin morgen das Flittchen in der Boutique. Ich bin übermorgen die Studentin. Und die sagt: Wir haben viele Ursprünge und ein eigenes Alphabet. Wir waren schon der Chor der Jungfrauen in den Kriegsstücken der Antike. Wir sind die, die flehen, klagen, anklagen, weinen, schreien, prophezeien, protestieren, warnen - vor eurer Geschichte. Wir warnen euch vor euch selbst. Wir hatten immer eine Stimme, sagt die Studentin. Aber nie eine Wahl. Nur einmal! Einmal hatten wir zwar keine Stimme, aber wir hatten die Wahl! Auch das eine Geschichte. Leider hat sie bisher noch niemand bemerkt. Aber davon später.

SCHMUGGLERIN

So hab ich die Wege kennen gelernt, die eine wie ich kennen muss, um eine wie ich zu werden: ich bin den Kühen gefolgt, manchmal auch den Schafen und auch den Ziegen, ich bin den wilden Tieren gefolgt, den Rehen und den Hirschen, ihnen zu folgen heißt, die Wege zu finden, davon weißt du nichts, du kennst nur die Marschrouten, ich aber kenne die Wege. Die Verbindungen. Jeder Weg ist eine Verbindung. Ihr hingegen zielt vor allem auf die Grenzen, oder setzt noch schnell welche, wenn ihr keine seht. Lange bevor ihr die Landschaft überzieht mit kriegerischen Strategien, lange davor und immer auch während ihr sie mit schwerem Kriegsgerät gepflastert und überrollt, war und ist diese Landschaft ein dichtes Netzwerk von Wegen, begangen von den Tieren und denen, die ihnen gefolgt sind. Parallelen Wegen, die sich mannigfach kreuzen, die aber nie gedacht sind, um sich frontal in den Weg zu fallen. Oder hinterrücks. Sie verlaufen als würden sie selbst laufen, die Wege, sie laufen zu den Bächen, laufen mehrfach an den Bäche entlang, kaum sichtbar, manchmal nur erschnüffelbar, laufen über die Bäche hinweg, über die Schluchten hinaus. Wer es gelernt hat, den Tieren zu folgen, findet aus jeder Schlucht heraus, steigt an den Hängen entlang und findet hinauf, findet genau zu der Stelle, wo es über den Kamm geht ins nächste Tal. Wege, die immer auch das Versteck mitdenken, die Unterschlüpfe, mit den Mulden. Und für eine wie mich: die Wege, an denen mir garantiert keine Grenze (und kein Grenzer) über den Weg läuft.

Wenn du als junger Mann von Anschluss redest, dann meint das für mich als junge Frau etwas ganz Anderes. Wenn du vom Anschluss redest, dann ist es nicht nur so, dass dieser Anschluss ganz dringend ist, denn ihr könntet ja etwas verpassen. Wenn du als junger Mann von Anschluss sprichst, dann wundert man sich, warum ihr nicht eh schon längst angeschlossen seid! Ist da mal was getrennt worden? 
Und die nach dem Anschluss rufen, sind das nicht die Toten, die rufen, dieselben, die vorher noch selbst begeistert gefolgt sind, als die früheren Toten nach ihnen gerufen haben? Und dann, wenn auch ihr ihrem Rufen aus dem Totenreich folgt und euch massenhaft in die Gräber schieben lässt: Ruft ihr dann auch? 
Wir aber sind Lebende. Der Ruf aus dem Reich geht an uns vorbei. Das ist nicht unser Reich, nicht unser Totenreich, es sind auch nicht unsere Toten.
Für uns klingt dieser Anschluss ganz anders: Wir hören das Wimmern. Das Flehen. Das Durchstoßen. Das Töten. Das Abtöten. Das Sterben. Wir hören die Lebenden. Das Abgebrochene. Den Bruch. Den Unterbruch. Den Einbruch. Was für euch ein Ausbruch ist, dröhnt für mich nach einem Einbruch. Wie kannst du also denken, dass wir uns dafür begeistern könnten. Euer Anschluss an ein Totenreich, in das ihr so begeistert hineinläuft, ist allen Lebenden zum Davonlaufen. Ihr könnt euch geschlossen ins Reich schieben lassen. Wir wandern daran vorbei.

Diese große Geschichte, zu der ihr immer wieder den Anschluss sucht, die scheint mir gehörig schamlos. Schämt ihr euch eigentlich nicht dafür? Oder kennt ihr keine Scham? Mir treibt eure Geschichte die Scham ins Gesicht. Aber warum eigentlich mir? Warum sollte ich mich schämen für eure Geschichte? Naja. Jemand sollte es allerdings tun.
Und was lehrt uns das? Was soll eure Geschichte uns lehren?

FLITTCHEN

Aber erstmal schämt ihr euch für mich. Für das Flittchen, das aus mir geworden ist. Für das, was ihr Fetzen nennt, und was ich Schönheit nenne, und was ihr verludert nennt, nenn ich meine Freiheit. Ich lasse mich herumtreiben wie ein Bündel Falschgeld, was mir die Freiheit unter den Kühen war, ist jetzt das Feiern in freien Kleidern. Ich verführe und lasse mich verführen. Werde verraten, verkauft, verlassen, bin verrufen von Anfang an. Und bin wieder allein. Ich steige in Autos, bis ich selbst eines habe, und die schmalen Pfade tausche ich jetzt durch die weite und offene Straße. Ich folge mir. Und nehme jede mit, die stoppt und einsteigen will und der Straße folgen will. Per Anhalter durch die große Galaxie der Kleiderstangen und Haute Couture. Des Glamours und Glitzers, der Lichtfassaden und Champagnerbäder. Wir sind viele geworden, sind es immer gewesen. Die es immer wieder hingeworfen hat. Auf ihren verrufenen Fährten. Immer sind wir selber schuld, wenn eine schwer wieder aufkam, unter Tränen wieder aufstand, niedergeworfen zwischen den Kleiderstangen in den Untergeschossen, im Alkohol ertränkt, den Kokslinien gefolgt, in der Geburtenklinik verhasst, aus der wir eine Abtreibungsabteilung machten. Eine Lobby werden wir nicht. Auch keine Individuen in eurer Gesellschaft. Aber ein Chor, wir bleiben ein ewiger Chor der mutterlosen, schutzlosen, achtungslosen Töchter - Töchter? Sind wir Töchter? Von welchen Müttern nochmal? Ach. Aber wir haben doch uns. Nein. Manchmal haben wir nichts. Wir schlagen uns durch. Ja. Und oft sind wir gut beieinander und manchmal auch gut auseinander. Und manchmal gehen wir einfach zu Bruch. Ja, nein. Das auch. 

STUDENTIN

Ich bin also der Chor der Jungfrauen, seit ich von meinem Professor weiß, dass es schon in den Kriegsstücken der antiken Tragödie einen gab, der Chor der Jungfrauen, die flehen, warnen, schreien, der Chor der ungehört Bleibenden oder Gebliebenen? 

Ist das jetzt der Anschluss?

Ich bin Elektra, immer vor dem Palast, wo sie nicht aufhört zu protestieren; gibt es einen ausgesetzteren Ort als vor den Toren der Macht zu stehen, und nicht zu weichen?
Ich bin Kassandra, die nicht aufhört, das Unheil zu buchstabieren, in die sie alle blind hineinrennen, auch wenn es ihr niemand abnimmt.

Und ich bin Medea, die die nicht aufhört ihrem Mann unter die Nase zu reiben, dass er nur lieben kann, wo es auch etwas zum Plündern gibt. Also gar nicht.

Ich bin Antigone, die auf ein würdiges Grab für ihren Bruder besteht, solange, bis das ganze System geschlossen ins Grab marschiert. 

Und nein, ich bin sie alle nicht, bin sie ganz und gar nicht. 
Antigone, gab es wirklich nichts Wichtigeres, als dich für deinen kriegswütigen, zerstörungswütigen, todessüchtigen Bruder einzusetzen, der lieber tausendmal stirbt, als einmal zu leben? Er wollte genau das, was er ist: tot sein. Vor aller Augen, und so lange wie möglich. Dafür gibst du dein Leben? Und noch das deiner Schwester? Für ein Prinzip? 
Und Kassandra, alles siehst du voraus, aber alles was du siehst, ist einzig das Geschick und das Schicksal eines machtgesteuerten Agamenon, für den du immer nur die Schickse warst, die Nutte an seiner Seite, der dir deine superloyale Vorhersehung nicht einmal abnimmt. 
Der hat seine vierjährige Tochter auf dem Gewissen - für den Krieg - geopfert, und alles was dich kümmert ist nicht etwa die Mutter, der ihr Kind abgekehlt wurde, sondern der Held aus dem Schlachtfeld; und dein Leben, dein Tod für ihn: sinnlos, deine gnadenlose Sehergabe: vielleicht selbst verblendet?

Und Elektra, deine Energie für dein charakterschwächliches Brüderchen Orestes, bis aus dem endlich etwas wird: der Mörder seiner Mutter. Es war auch deine Mutter. Und der Vater, dem deine ganze Hingabe gilt, der Mörder deiner Schwester! Und dein Bruder, der nur noch die Reue kennen wird in seinem Leben, wird immerhin als der erste tragische Held in die westeuropäische Zivilisationsgeschichte eingehen. Die Geburtsstunde der tragischen Figur Orestes! Nicht wahr, Herr Professor? Und Elektra! Du wirst nirgends eingehen, du bleibst schön sitzen vor dem Palast. 

Keine von euch hat es zum Individuum gebracht, nicht wahr, Herr Professor. Nicht zur tragischen Figur und nicht zum Subjekt, geschweige denn zu einer Lobby. Die Individuation beginnt, Zitat, wo "einer - EINER - auf sich selbst zurückfällt, verlassen, verstoßen, abgetrennt - abgetrennt ist vom Mainstream." Danke Herr Professor. 

Abgetrennt zu sein ist unser Ursprung, und auf uns selbst geworfen auch: von Anfang an. Verraten, verkauft, verzweifelt, ohnmächtig, ausgeliefert, wissend, dass es keinen Gott gibt - nein! Denn der ist ja auch nicht für uns geschrieben worden. Und die ganze Welt schaut zu - nein! Schaut weg - nein! Bemerkt es gar nicht, wenn ihr allein gelassen in euren Kuhfladen hineinrotzt! Das zählt nicht. Ihr zählt nicht. Jedenfalls nicht zur tragischen Figur - denn dafür müsstet ihr erstmal eine Figur, ein Subjekt, ein Individuum sein werden können - oder eine Lobby eben. Das also wäre nicht der richtige Anschluss zum Anschluss.

Aber das liegt wohl nicht an euch. Wer hat euch geschrieben? 

Und ich glaub dir Medea sofort, glaub dir mir allem, was ich verstanden habe: dass nicht du! deine Kinder umgebracht hast! Auch wenn du als Kindsmörderin ganz gut Kohle verdienst, lange nicht soviel wie eine, der man die Kinder abschlachtet und sie die Schuld büßen lässt, während der Mörder noch immer frei rumläuft. Was sollen wir nur glauben? Wer hat euch geschrieben? Ans Schlachtfeld bleibt ihr angeschlossen. Wenn auch niedermarschiert.

Ich bin die Studentin und ihr Flittchen fragt mich, was für eine Geschichte das ist? 

Und ob das ein feministisches Stück ist. Nein. Sag ich. Nein! Das kann ich euch nicht antun! Es ist die Geschichte, von der wir nicht wissen, wie sie verlaufen wäre und wohin sie gelaufen wäre. Das müssen wir so stehen lassen. Auch das ist eine Geschichte.

Warum ist uns nie jemand gefolgt? 

Wir sind uns selbst gefolgt, das ja, wir sind weggeschickt worden oder haben uns selbst weggeschickt oder sind geblieben, als ihr losmarschiert seid. Immer aber - und noch immer, sind wir auf ihre Spuren gestoßen, auf die Spuren der Kuh. 

Ach ja und einmal - einmal sind wir geblieben, das war ein Moment, ein historischer Moment! Leider blieb er unbemerkt, kein Moment und kein Monument. Wir! sind geblieben, als sich alle in den Zug gezwängt habt, um dem Reich zu folgen, dem Krieg hinterher, nach dem Anschluss grabschend. Wir sind einfach geblieben und niemand hat's bemerkt. Der Chor der Jungfrauen, gerade volljährig, und gerade noch nicht verheiratet, übersehen als Stimme, aber auch übersehen als die, über die keiner mehr oder noch nicht - abstimmen konnte, die Väter oder die Männer. Wir waren unbemerkt freigestellt und sind nicht gefolgt, sondern geblieben. Bei den Kühen, ja, an der Kuh blieben wir hängen und ihr sind wir gefolgt. 

Die wurde nicht einmal Mensch, geschweige denn ein Individuum, und hat es dennoch über die Kontinentalplatten hinweg, über Länder, Gräben und Gebirgsketten hinweg, bis nach Europa geschafft, nein!! Europa hat es nach Europa geschafft und sogar ins Europaparlament hat sie gefunden! 

 

Dieser Text wurde im Rahmen des Kollektivsalons im Kasino am Schwarzenbergplatz in Szene gesetzt. Mit Maresi Riegner, Marie-Luise Stockinger, Andrea Wenzl

Szenische Einrichtung von Mechthild Harnischmacher

© Nane Diehl
  ÜBER DIE AUTORIN

Maxi Obexer, geboren in Südtirol, ist Theaterautorin und Schriftstellerin. Sie studierte Allgemeine / Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Theaterwissenschaft in Wien und Berlin und gründete 2015 zusammen mit Sasha Salzmann das NIDS (Neues Institut für Dramatisches Schreiben).

Zahlreiche Gastprofessuren u. a. an der Georgetown University in Washington D.C., am Dartmouth College, New Hampshire, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität der Künste Berlin. Sie war Stipendiatin der Berliner Akademie der Künste, des Literarischen Colloquiums Berlin und der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Lange bevor die Schiffskatastrophen im Mittelmeer im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wurden, machte Obexer die europäische Einwanderungspolitik zu einem thematischen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Seitdem untersucht und fragt sie mit ihren Texten nach der Bedeutung Europas. Es entstanden erfolgreiche Theaterstücke und Hörspiele wie „Das Geisterschiff“(2006), „Gehen und Bleiben“ (2017) oder „Illegale Helfer“ (2015) das 2016 mit dem Robert Geisendörfer Preis ausgezeichnet wurde. In ihren Werken zeigt Obexer eine vielseitige und ungewohnte Perspektive auf das Ein- und Auswandern von Menschen. Maxi Obexer lebt in Berlin.

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