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Die Wissenschaft der Empathie

von NINO HARATISCHWILI Lesedauer 9 Minuten

Als sie am 1. September 2023 zur Stadtschreiberin des Frankfurter Stadtteils Bergen-Enkheim ernannt wurde, hielt Nino Haratischwili eine Rede über den Umgang mit Gewalt und Leid, die Kraft der Kunst und den Rausch der Fantasie. Was kann Literatur der Welt von heute entgegensetzen? Dass man anhand von antiken Dramen aktuelle politische Entwicklungen kommentieren und kritisch reflektieren kann, zeigt Haratischwili mit ihrer Überschreibung PHÄDRA, IN FLAMMEN, die aktuell im Akademietheater in der Regie von Tina Lanik mit Sophie von Kessel als ikonischer Athener Königin gezeigt wird.

Hier lesen Sie einen Ausschnitt aus Haratischwilis Rede, die zusammen mit u. a. einem Auszug aus PHÄDRA, IN FLAMMEN und Gesprächen mit Nino Haratischwili auch in Buchform erschienen ist: Stadtschreiberei. Von Marion Poschmann zu Nino Haratischwili. Verlagsbuchhandlung Bergen erlesen, Frankfurt am Main 2023

Szenenfoto aus "Phädra, In Flammen"
© Marcella Ruiz Cruz

Ich komme aus einem Land, das siebzig Jahre lang Teil der Sowjetunion war und für den Kampf um die eigene Unabhängigkeit einen horrenden, blutigen Preis bezahlt hat und bis heute zahlt. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von russischen Panzern und Soldaten, von Entbehrungen, Krisen, Gewalt, Bürgerkriegen. Ich habe nach meinem Umzug nach Deutschland kaum über meine Jugend gesprochen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass meine Erfahrungen hierzulande teilbar wären, ich wollte auch niemanden verstören, ganz zu schweigen davon, dass ich es um jeden Preis vermeiden wollte, bemitleidet zu werden. Solche Erfahrungen sagen nichts aus. Der Umgang mit Krisen und mit Leid ist so individuell wie jede menschliche Biografie es letztlich auch ist. Manche gehen gestärkt aus derlei heraus, manche zerbrechen daran, und man kann nie wissen, welche Variante man wählen wird, bis man selbst in solch eine Situation kommt. Auch ich wäre womöglich eine von jenen, die es nicht geschafft hätten, diesen Zeiten zu trotzen, wären da nicht zwei entscheidende Faktoren, die mich dieser Ära haben entkommen lassen: mein junges Alter und somit wenig Bewusstsein dafür, was gerade um mich herum geschah – und das Schreiben.

Der Umgang mit Krisen und mit Leid ist so individuell wie jede menschliche Biografie es letztlich auch ist. Manche gehen gestärkt aus derlei heraus, manche zerbrechen daran, und man kann nie wissen, welche Variante man wählen wird, bis man selbst in solch eine Situation kommt.

Ich erinnere mich nicht, ab wann ich damit angefangen habe, irgendwie war es immer da, die Bücher und die Hefte, die ich manisch vollschrieb. Unzählige Hefte liegen in meiner Wohnung in Tbilissi, in die ich mich kaum reinzuschauen traue, ich weiß nur, dass das alles erfundene Geschichten sind, denn ich glaube, dass mich damals unterbewusst der Wunsch angetrieben hat, meine triste Realität in andere Farben zu tauchen, jemand anderer zu werden. In dieser Zeit, mit zwölf, dreizehn Jahren, wurde der Wunsch dringlicher, ich schrieb intensiver, denn in meiner kriegs- und krisenversehrten georgischen Wirklichkeit gab es wenige Fluchtorte für Heranwachsende. Und auch zu wenig Ablenkung. Schon allein wegen der permanenten Stromausfälle war Fernsehen ein rares Glück. Also las ich. Ich las, weil meine Großmutter sehr viele, wunderbare Bücher besaß und die Literatur vergötterte, auch wenn sie selbst eine Wissenschaftlerin war. Ich las und las, und dann schrieb und schrieb ich. Es war kein ambitioniertes Vorhaben, ich war Lichtjahre davon entfernt, zu glauben, dass ich ernsthaft beanspruchen könnte, Literatur zu verfassen. Ich tat es, weil es mir so selbstverständlich erschien wie essen oder schlafen, und ich fing damit an, weil ich einem Geheimnis auf die Schliche gekommen war: Ich erinnere mich, dass irgendwann mal Brot rationiert wurde und man nur mit Essensmarken einkaufen gehen konnte und die Schlangen vor Lebensmittelläden endlos waren. Wir, die Kinder, fanden das alles natürlich aufregender als die Erwachsenen, die vor lauter Sorgen und Problemen keinerlei Kraft mehr hatten. Also stellten wir Kinder uns oft in diese Schlangen – eine Art place to be für den neusten Tratsch und die Möglichkeit, sich über die Politiker aufzuregen – und alberten herum, lachten, in diesen endlosen Stunden des sinnlosen Wartens. Eines Nachmittags brachte eine Freundin von mir eine Puppe in Babygröße mit und da Frauen mit Kleinkindern und Schwangere vorgelassen wurden, beschloss ich, die Puppe in eine Jacke wickelnd, die große Schwester eines Babys zu spielen. Meine Freundin machte sofort mit und im Handumdrehen wurde die Realität viel spannender, aufregender, ganz zu schweigen davon, dass wir weitaus schneller an die Reihe kamen. Wir gingen so weit, dass wir uns ausführlich über die Probleme des Babys unterhielten: dass es Koliken habe oder dass es nachts schlecht schlafe. Nicht nur wir spielten dieses Spiel, wir zwangen die ganze Umgebung, mitzumachen, alle um uns herum wurden mit hineingezogen, und durch diese Behauptung, womöglich gar eine Lüge, veränderte sich die Realität. (Nach dem dritten Mal flog unser Theater auf und wir bekamen ordentlich Ärger, aber das spielt jetzt keine Rolle ...)

Die Fantasie kann manchmal der einzige Weg sein, die Wirklichkeit auszuhalten.

Durch dieses Spiel erkannte ich etwas, das eine ausschlaggebende Rolle für meine Zukunft spielen sollte: Ich konnte durch eine Erfindung Dinge verändern. Ich konnte sie spannender, aufregender, bunter und abenteuerlicher gestalten. Und diese Erkenntnis verschaffte mir eine ungeahnte Freude, die bis heute anhält. Worauf ich hinaus will: Die Fantasie kann manchmal der einzige Weg sein, die Wirklichkeit auszuhalten. Und sie kann der einzige Weg sein, einen Sinn in die absolute Sinnlosigkeit zu bringen.

Es gibt Autoren, die ihr Leben ausweiden und daraus die wunderbarste Literatur zu zaubern fähig sind, aber dieses Talent besitze ich nicht. Mein Zugang zum Schreiben funktioniert ausschließlich über Distanz und Transformation. Deswegen ist mein Zugang zum Schreiben niemals autobiografisch. Der Reiz, jemand anderer zu sein, ist ein Teil meines Schreibimpulses. Es ist eine Art Spiel, Schauspiel, wenn man es so will, nur, dass ich diese Figur nicht mit meinem Körper und meiner Stimme zum Leben erwecke, sondern mit meinen Worten. Und in den besten Momenten, in den rauschhaftesten Zuständen, die sich manchmal beim Schreiben herstellen lassen, bin ich so weit weg von mir, wie man es nur sein kann. Ich verschwinde hinter all dem Erfundenen, all dem Ausgedachten, und doch ist diese Erfindung tief in mir verwurzelt. Ich greife auf etwas zu, das in mir verschüttet liegt, worauf ich teilweise im Alltag keinen Zugriff habe.

Wären wir in jeder Sekunde und in jeder Situation des Lebens zur Empathie fähig, würde es keine Kriege geben. Und solange es nicht so ist, müssen wir sie künstlich züchten in Laboren der Kunst.

Neulich erzählte mir mein ukrainischer Kollege Ostap Slyvynsky von den Nächten, die er in den Bunkern seiner Heimatstadt Lviv verbrachte, und dass die Nachbarn sich dort zum ersten Mal unterhalten, sich ausgetauscht, kennengelernt hätten. Und sogar lange nachdem der Alarm vorübergewesen sei, wären die Menschen dort sitzen geblieben, sich unterhaltend, teilweise sogar singend. Ich wusste sofort, was er meinte, ich erinnere mich an diese Tage von damals, erinnere mich an diese Sehnsucht nach Gemeinschaft angesichts der lebensbedrohlichen Angst. Denn der letzte Krieg, den ich erlebte, war 2008, auch da fielen russische Bomben und ich stellte mir damals zum ersten Mal diese Grundsatzfrage: Wozu Schreiben, wozu überhaupt noch Kunst, wozu überhaupt versuchen, etwas zum Ausdruck zu bringen, wenn die Welt um einen herum vollkommen irrsinnig geworden ist und Gewalt und Tod alles andere zum Verstummen bringen. Und doch erinnere ich mich an diese Tage auch voller Hunger. Ja, so lässt sich dieses Gefühl beschreiben, das mich damals befallen hatte: Hunger nach Leben, Hunger nach Menschen, Hunger nach Liebe. Und vor allem Hunger nach Zusammenhalt. Ich erinnere mich an das Zusammensitzen vielerorts mit verschiedenen Menschen: teilweise bekannten und teilweise fremden, und ich erinnere mich an die unglaublichsten Geschichten, die ich zu hören bekam, sehr intime, sehr besondere Geschichten, die man sich gegenseitig erzählte, und erst viel später begriff ich die Ursache dieser unerwarteten Offenheit: Niemand wusste, wie der morgige Tag aussehen würde und ob es ihn überhaupt noch gäbe. Denn erst, wenn jede Selbstverständlichkeit verschwindet, jede Gegebenheit in Frage gestellt ist und die existenzielle Angst alles dominiert, beginnt man Dinge in einer Form wertzuschätzen, wie man es vorher nie getan hat. Vollkommen banale Dinge werden plötzlich zu großen Ereignissen und man besinnt sich auf alles, was das Leben lebenswert macht. Wenn Ostap davon erzählt, dass die Menschen während eines Bombenalarms in den Bunkern sitzen, dann sind es ebendiese Geschichten, erfundene oder erlebte Geschichten, die sie die Tatsache vergessen lassen, dass alles binnen weniger Sekunden vorbei sein kann, das ganze Leben.

Unsere Welt ist aus diesen Geschichten gewebt. Wir saugen sie mit der Muttermilch ein. Alles, was vor uns war und vielleicht gar, was kommen wird, all das ist in uns eingeschrieben und durch die aus Worten gewebten, unsichtbaren Fäden sind wir alle miteinander verbunden. Worte einen uns und manchmal trennen sie uns auch. Aber sie sind nun mal die Krücken, die wir benutzen, um uns darauf zu stützen, um uns gegenseitig Halt zu geben und manchmal auch, um schlichtweg nicht den Verstand zu verlieren.

Denn erst, wenn jede Selbstverständlichkeit verschwindet, jede Gegebenheit in Frage gestellt ist und die existenzielle Angst alles dominiert, beginnt man Dinge in einer Form wertzuschätzen, wie man es vorher nie getan hat.

Und aus Worten weben wir noch etwas anderes, etwas, das letztlich die einzige und effektivste Prävention gegen jede Gewalt ist: Empathie. Indem wir uns mitteilen, machen wir uns einerseits angreifbar und anderseits zugänglich. Wir schlagen Brücken. Ohne die Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken, sich einzufühlen, ist für mich diese Welt ein sehr finsterer Ort. Aber leider, leider ist diese Gabe in unserem Alltag nicht in dem Maß präsent, wie wir es bräuchten. Wären wir in jeder Sekunde und in jeder Situation des Lebens zur Empathie fähig, würde es keine Kriege geben. Und solange es nicht so ist, müssen wir sie künstlich züchten in Laboren der Kunst. Denn kein anderer Bereich kann dies so gut wie die Kunst, und keine Kunstgattung beherrscht diese Wissenschaft so präzise wie die Literatur. Sie ist die Wissenschaft der Empathie, wenn man so will. Ja, Empathie ist vielleicht das größte Geschenk, das einem die Literatur machen kann, dem Lesenden und dem Schreibenden zugleich. Worte werden zu Geschichten und fließen durch uns hindurch. Sie machen uns weicher, sie machen uns formbar. Sie hinterlassen unsichtbare Abdrücke.

Portrait Nino Haratischwili
Nino Haratischwili
© G2 Baranik

Nino Haratischwili

wurde 1983 in Tbilissi, Georgien, geboren. Von 2000 bis 2003 studierte sie Filmregie an der Staatlichen Schule für Film und Theater in Tbilissi. 2003 kam sie nach Deutschland und absolvierte bis 2007 ein Regiestudium an der Theaterakademie Hamburg. Nach Arbeiten am Theater in Georgien und Deutschland, erlangte sie vor allem als Romanautorin große Bekanntheit. Ihr Familienepos „Das achte Leben (Für Brilka)“ wurde in 25 Sprachen übersetzt und ihr Roman „Die Katze und der General“ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis. 

Heute lebt Haratischwili als freie Autorin und Regisseurin in Berlin.


 

Infos zum Stück
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Phädra, in Flammen

Akademietheater
Nino Haratischwili
Magazin #16: Aufstehen

Protokoll: EUROPA IM DISKURS zum Nahostkonflikt

Die erste Ausgabe von EUROPA IN DISKURS in der Spielzeit 2023/24 in ganzer Länge zum Nachlesen. Mit Politikwissenschaftlerin Rula Hardal, Nahostexpertin Gudrun Harrer, Außenminister Alexander Schallenberg und Politikberaterin Dahlia Schei

Warum sollte man so schnell wie möglich erwachsen werden?

Burgtheaterstudio
Im Rahmen der Produktion von Cornelia Funkes HERR DER DIEBE begeben wir uns auf die Suche nach der Antwort, warum man so schnell wie möglich erwachsen werden sollte.

Fragebogen #8: Die Nebenwirkungen

Fragebogen
Wir haben den Journalist, Autor und Podcaster Andreas Sator eingeladen, eine Vorstellung von Jonathan Spectors Stück DIE NEBENWIRKUNGEN zu besuchen – seine Eindrücke teilt er mit uns im Fragebogen.

Schreibweisen #8: Sinfonien des Grauens

Schreibweisen
Wir haben Gerhild Steinbuch gebeten, uns einen Einblick in ihren Schreibprozess für NOSFERATU zu gewähren. Das Stück feiert am 19. Jänner 2024 Premiere im Burgtheater.

Synapsen Arpeggio Forever

Playlist
#7: Playlist: Thomas Köck zum musikalischen Fundament seines Stücks SOLASTALGIA.

Backstage bei DER MENSCHENFEIND

Einblicke in den Produktionsprozess zu Molières DER MENSCHENFEIND, festgehalten von der Fotografin Marcella Ruiz Cruz. Die Inszenierung von Martin Kušej feierte am 18. November 2023 Premiere im Burgtheater.

Die Wissenschaft der Empathie

Was kann Literatur der Welt von heute entgegensetzen? Auszüge aus Nino Haratischwilis Rede anlässlich ihrer Ernennung zur Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. Ihre Überschreibung PHÄDRA, IN FLAMMEN sehen Sie im Akademietheater.

Büchners Flucht

Fundstück
Robert Walser schildert 1912 Büchners Flucht nach Straßburg. „Die Tragödie der Revolutionäre“, DANTONS TOD, feiert am 16. Dezember Premiere im Burgtheater.

Brief aus... #5 Ohio

Brief aus ...
Der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer teilt in seinem Brief aus dem Bible Belt Erinnerungen und Gedanken an sein Aufwachsen in Ohio und gibt damit den Hinweis auf eine wesentliche Inspirationsquelle seiner Inszenierung KASPAR.

OHMANNOSPHÄRE

Am 15. Dezember feiert Ferdinand Schmalz' Stück HILDENSAGA. EIN KÖNIGINNENDRAMA im Akademietheater Premiere. Für unser Magazin verfasste Ferdinand Schmalz einen Text über die „Mannosphären“ unserer Zeit.
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