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EUROPA. EINE PERSÖNLICHE GESCHICHTE

von Timothy Garton Ash Lesedauer 20 Minuten

Der renommierte britische Historiker und Professor Timothy Garton Ash ist ein leidenschaftlicher Europäer, der die Idee Europas als ein Sinnbild für Freiheit und Toleranz versteht. Schon vor 1989 wollte er sich nicht mit der Teilung des Kontinents abfinden, bis zuletzt kämpfte er gegen den Brexit. Am 5. Dezember 2023 präsentierte er bei APROPOS GEGENWART sein neues Buch „Europa. Eine persönliche Geschichte“, einen Auszug lesen Sie hier. 

Portraitfoto Timothy Garton Ash
© Sue Taylor

APROPOS GEGENWART
Timothy Garton Ash: „Europa. Eine persönliche Geschichte“

Mit Timothy Garton Ash und Misha Glenny
Es liest Regina Fritsch

5. Dezember 2023, Akademietheater

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Timothy Garton Ash bei APROPOS GEGENWART

Auch in der Spielzeit 2023/24 wollen wir den diskursiven Dialog zu aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen in unserer Burgtheater-Reihe APROPOS GEGENWART wiederaufnehmen:

Am 5. Dezember sprach Timothy Garton Ash über sein neuestes Buch „Europa. Eine persönliche Geschichte“ (Hanser Verlag, 2023). Darin verknüpft er seine Lebensgeschichte mit den historischen Ereignissen seit 1945 und zeichnet einen Weg des wiederholten europäischen Kampfes um Frieden und Demokratie.

Auszüge daraus las Ensemblemitglied Regina Fritsch. Misha Glenny, ein persönlicher Freund, BBC-Journalist und Rektor des Institutes für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, moderierte das Gespräch.

Die Veranstaltung findet in deutscher Sprache statt. 

Timothy Garton Ash über sein neues Buch "Europa"
Timothy Garton Ash über sein neues Buch "Europa"

Leseprobe: PROLOG

UNSERE ZEIT

Umhüllt vom ungewohnten Geruch nach Gauloises-Tabak und starkem schwarzen Kaffee sitze ich mit meiner französischen Gastfamilie in einem kleinen Wohnzimmer und starre auf einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Ich bin 14 Jahre alt, Austauschschüler und helfe beim Über- setzen.

Armstrong il dit: un petit pas pour moi, un grand pas pour l’humanité!

Bald hüpft eine schattenhafte Gestalt in einem Raumanzug schwerelos über die Mondoberfläche, eine Szene, die mir aus dem Tim-und-Struppi-Comic Schritte auf dem Mond bestens bekannt ist.

Buchcover „Europa. Eine persönliche Geschichte“ von Timothy Garton Ash
© Carl-Hanser-Verlag, München 2023.

Es ist schwer, noch einmal das Gefühl zu vergegenwärtigen, wie entlegen Kontinentaleuropa 1969 für einen englischen Schuljungen war. Ich würde nicht sagen, dass Frankreich so weit weg war wie der Mond, aber es war so ziemlich alles, was die Engländer traditionell in das Wort »foreign« packen. Dort drüben essen sie Frösche, fahren Motorroller und haben jede Menge Sex. Was auch immer du tust, trink bloß nicht das Wasser. Um in die Stadt La Rochelle an der Atlantikküste zu gelangen, musste ich eine scheinbar endlose Reise mit Bus, U-Bahn, Zug, Fähre (ich war schlimm seekrank), Zug und wieder Bus zurücklegen. Mein nagelneuer dunkelblauer britischer Reisepass mit steifem Einband war am Grenzübergang genau geprüft und abgestempelt worden. In meiner Tasche fummelte ich nervös an ein paar knisternden, riesigen Francs-Scheinen herum. Nach Hause zu telefonieren war eine komplizierte Prozedur, bei der ich mich in schlechtem Französisch durch ein rauschendes und knackendes Festnetztelefon mit einer Telefonistin herumschlagen musste (»Peut on reverser les charges?«).

Zwanzig Jahre später war ich auf einer Dissidentenversammlung in Budapest und signierte Exemplare der ungarischen Ausgabe meiner Essays über Mitteleuropa. Es war das Jahr der Wunder, 1989. Freiheit und Europa – die beiden politischen Anliegen, die mir am meisten am Herzen liegen – marschierten Arm in Arm zu den Klängen von Beethovens 9.Symphonie voran und kündigten eine friedliche Revolution an, die ein neues Kapitel der europäischen und der Weltgeschichte aufschlagen würde. Kein Teil des Kontinents war mir mehr fremd. Ich lebte das Paradoxon, das den Wesenskern eines zeitgenössischen Europäers ausmacht: Ich war im Ausland zu Hause.

So sehr zu Hause sogar, dass sich einer meiner ungarischen Freunde zu mir umdrehte, als wir auf dem Heimweg durch die warmen, sinnlichen Straßen von Budapest spazierten, und ausrief: »Du musst von Schalom Asch abstammen!«

»Nein«, erwiderte ich leicht verblüfft.

»Wie kommt es dann, dass du sich so sehr für Mitteleuropa interessierst?«

Als ob es einer genetischen Erklärung bedürfte, dass man sich emotional für einen anderen Teil Europas interessierte.

Unsere Identitäten sind gegeben, aber auch gemacht. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen, aber wir können entscheiden, wer wir werden. »Im Grunde bin ich ja Chinese«, schrieb Franz Kafka in einer Postkarte an seine Verlobte. Wenn ich sage, dass ich im Grunde ja ein Mitteleuropäer bin, dann meine ich damit nicht, dass ich im Wortsinne von dem mitteleuropäischen jiddischen Schriftsteller Schalom Asch abstamme, sondern postuliere eine Wahlverwandtschaft.

Da mein Geburtsort Wimbledon in England ist, bin ich zweifellos in Europa geboren und daher in diesem rudimentären Sinne ein geborener Europäer. Bis zurück zu Eratosthenes vor etwa 2200 Jahren haben Kartenzeichner Großbritannien immer in Europa verortet, einer Region, die in der wahrscheinlich ältesten dauerhaften mentalen Unterteilung der Welt Asien und Afrika gegenübersteht. Seit es eine geografische Vorstellung von Europa gibt, waren unsere in etwa dreieckigen Inseln ein Teil davon. Aber ich wurde keinesfalls als Europäer in dem Sinne geboren, dass ich dazu erzogen wurde, mich als solchen zu betrachten.

Das einzige Mal, dass sich meine Mutter als Europäerin bezeichnete, war, als sie sich an ihre Jugend im britisch regierten Indien erinnerte, wo sie als Tochter des Raj geboren wurde. »Als Europäerin«, erzählte sie mir, »ging man frühmorgens ausreiten«, und sie erinnerte sich mit Freu- den an einige romantische Monate, die sie als junge Frau am Ende des Zweiten Weltkriegs in Neu-Delhi verbrachte ... In Indien nannten sich die Engländer Europäer. Nur daheim leugnen sie immer noch gerne eine Wahrheit, die für jeden, der sie von Washington, Peking, Sibirien oder Tasmanien aus betrachtet, selbstverständlich erscheint.

Ich habe meinen Vater nie von sich selbst als Europäer sprechen hören, obwohl seine prägende Erfahrung darin bestand, am D-Day mit der ersten Welle am Strand der Normandie zu landen und sich mit den Befreiungsarmeen quer durch Nordeuropa zu kämpfen, bis er den VE-Tag (Victory in Europe) in einem Panzer irgendwo in der norddeutschen Tiefebene still und erschöpft begrüßte. Einer seiner verehrten konservativen Premierminister, Harold Macmillan, soll einmal über den legendären französischen Präsidenten Charles de Gaulle bemerkt haben, dass »er Europa sagt und Frankreich meint«. Aber das galt auch für die Engländer von der Sorte meines Vaters. Wenn sie Europa sagten, meinten sie in erster Linie Frankreich, so wie es die Engländer seit mindestens sechs Jahrhunderten taten, seit der Hundertjährige Krieg die nationalen Identitäten Frankreichs und Englands geprägt hatte, und zwar im Gegensatz zueinander.

Für meinen Vater war Europa definitiv fremd, und die Europäische Union war einer jener »schurkischen Pläne«, die zu durchkreuzen unsere Nationalhymne den patriotischen Briten aufruft. Einmal schenkte ich ihm zu Weihnachten einen großen Schokoladen-Euro, den er prompt mit theatralischem Zähneknirschen verschlang. Er, der lebenslange, aktive Konservative, ist im Alter zu meinem Entsetzen kurzzeitig zur UKIP, der UK Independence Party, übergelaufen. Wäre er 2016 noch am Leben gewesen, hätte er zweifelsohne für den Brexit gestimmt.

 

Wir Europäer können mehrere Heimatländer haben, aber niemand ist in allen Teilen Europas gleichermaßen zu Hause.

Ich fühle mich durch das historische Glück gesegnet, in England aufgewachsen zu sein, einem Land, das ich liebe; aber diese geografische Tatsache allein hat mich nicht zu einem Europäer gemacht. Ein bewusster Europäer wurde ich irgendwann zwischen dem ersten Inhalieren von Gauloises-Tabakrauch als Schuljunge im Jahr 1969 und dem Signieren meiner Bücher im revolutionären Budapest im Jahr 1989. In meinem Tagebuch ist für Freitag, den 12. August 1977, ein Abend in einer Westberliner Pizzeria mit Karl vermerkt, einem österreichischen »Elektriker, Filmkenner und Taxifahrer«, den ich als 22-jähriger Oxford-Absolvent als »einen erkennbar zivilisierten Mit-Europäer« beschreibe. Immerhin ein Mit-Europäer.

Dieses Buch ist eine persönliche Geschichte Europas. Es ist keine Autobiografie. Vielmehr ist es eine Geschichte, die durch persönliche Erinnerungen veranschaulicht wird. Ich stütze mich dabei auf meine eigenen Tagebücher, Notizhefte, Fotos, Erinnerungen, Lektüren, Beobachtungen und Gespräche während des letzten halben Jahrhunderts, aber auch auf die Erinnerungen anderer. Wenn ich also von »persönlicher« Ge- schichte spreche, meine ich nicht nur »meine eigene«, sondern die Geschichte, wie sie von einzelnen Menschen erlebt und durch ihre Ge- schichten exemplifiziert wurde. Ich zitiere aus meinen Gesprächen mit führenden europäischen Politikern, wenn dies zur Erhellung der Ge- schichte beiträgt, aber auch aus vielen Begegnungen mit sogenannten einfachen Leuten, die oft viel bemerkenswertere Menschen sind als ihre Politiker.

Ich habe einige Orte besucht oder wieder besucht, um die Dinge persönlich in Augenschein zu nehmen, wie Journalisten es tun, aber ich habe mich auch auf die besten Primärquellen und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gestützt, wie Historiker es tun. Im Gegensatz zu den Reportagen und Kommentaren, die ich damals geschrieben habe, während die Geschehnisse noch im Gange waren, nutze ich hier den Vorteil der Rückschau voll aus. Hinterher ist man, wie es so schön heißt, immer klüger, und obwohl der Blick aus den frühen 2020er Jahren bei weitem nicht vollständig ist, sind einige Dinge klarer geworden.

Ich bemühe mich stets darum, genau, wahrhaftig und fair zu sein, erhebe aber nicht den Anspruch, erschöpfend, unparteiisch oder objektiv zu sein. Ein junger griechischer Autor würde ein anderes Europa malen, genauso wie ein älterer Finne, ein schottischer Nationalist, ein Schweizer Umweltschützer oder eine portugiesische Feministin. Wir Europäer können mehrere Heimatländer haben, aber niemand ist in allen Teilen Europas gleichermaßen zu Hause.

So unterschiedlich unsere Orte sind, so unterschiedlich sind auch unsere Zeiten. Einige meiner engsten polnischen Freunde arbeiteten während einer Zeit intensiver Repression Anfang der 1980er Jahre im »Untergrund«, benutzten falsche Namen, wechselten nachts heimlich die Wohnung und schickten verschlüsselte Botschaften, ganz so wie die Mitglieder des polnischen Untergrundwiderstands gegen die NS-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Auf einer Reise zu ihnen vermerkte ich in meinem Tagebuch: »Abflug Heathrow: 1984, Ankunft: 1945«. Verschiedene Generationen können selbst dann in verschiedenen Zeiten le- ben, wenn sie am selben Ort wohnen. Mein 2023 ist nicht das 2023 meiner Studenten. Jeder hat seine ganz eigene »unsere Zeit«.

Wenn es heute also etwa 850 Millionen Europäer gibt – bei einer weit gefassten geografischen Definition von Europa, die auch Russland, die Türkei und den Kaukasus umfasst –, dann gibt es auch 850 Millionen individuelle Europas. Nenne mir dein Europa, und ich sage dir, wer du bist. Aber selbst dieser Rahmen ist nicht weit genug gefasst. Identität ist eine Mischung aus den Karten, die wir bekommen haben, und dem, was wir daraus machen. Sie ist auch eine Mischung aus dem, wie wir uns selbst sehen und wie andere uns sehen. Die Europäer, die einen ausgeprägten Hang zur Selbstgefälligkeit haben, müssen sich auch mit den Augen von Nichteuropäern sehen, vor allem in dem sehr großen Teil der Welt, der die europäische Kolonialherrschaft erlebt hat.

Doch auch wenn wir alle unsere eigenen persönlichen Epochen und unser jeweils eigenes Europa haben, so sind sie doch in gemeinsamen Zeitrahmen und Räumen angesiedelt. Das heutige Europa lässt sich nicht verstehen, wenn wir nicht in die Zeit zurückgehen, die Tony Judt seiner Geschichte Europas nach 1945 als Titel gegeben hat: Postwar, Nachkrieg. Überlagert und in bedeutsamer Hinsicht verdrängt wird dieser Nachkriegsrahmen jedoch vom Nachmauereuropa – dem Europa, das nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, dem Unter- gang der Sowjetunion im Dezember 1991 und dem Ende der Teilung un- seres Kontinents in zwei feindliche Blöcke entstand. Im Folgenden gebe ich sowohl einen persönlichen Bericht als auch eine Interpretation der europäischen Geschichte in diesen sich überschneidenden Zeitrahmen des Nachkriegs und der Nachmauerzeit – post-War und post-Wall.

Die Zeit nach der Mauer war in Europa keine Zeit ununterbrochenen Friedens. Sie wurde durchbrochen vom blutigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens in den 1990er Jahren, von terroristischen Gräueltaten in vielen europäischen Städten, Russlands Aggression gegen Georgien im Jahr 2008, der Besetzung der Krim im Jahr 2014 und dem anschließenden, anhaltenden bewaffneten Konflikt in der Ostukraine. Für die Mehrheit der Europäer ließe sich diese Zeit dennoch als Dreißigjähriger Frieden bezeichnen. Er endete mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022, der einen Krieg von einem Ausmaß und einer Grausamkeit auslöste, wie wir ihn in Europa seit 1945 nicht mehr erlebt haben. Und 1945 ist der Punkt, an dem unsere Geschichte beginnen muss.

 

Herausgegeben im Carl-Hanser-Verlag, München 2023.

Portraitfoto Timothy Garton Ash
Timothy Garton Ash
© Sue Taylor

Timothy Garton Ash

Timothy Garton Ash, 1955 geboren, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University, daneben schreibt er regelmäßig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt in Oxford. 

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Apropos Gegenwart - Timothy Garton Ash: "Europa. Eine persönliche Geschichte"

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