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"ICH BIN GEÄCHTET"

"Zdeněk hat sich aus der Welt katapultiert, um zu protestieren gegen die Welt", hieß es bei Peter Handkes erster Beschäftigung mit der Figur Zdeněk Adamec in seinem Roman DIE OBSTDIEBIN von 2017. Die Unbedingtheit und Radikalität der Tat ist der Ausgangspunkt. Alle Begründungen für und Aufklärungen über die Tat und ihre Motive müssen versagen. In Frank Castorfs Inszenierung ZDENĚK ADAMEC, die am 18. September 2021 im Burgtheater Premiere hatte, ziehen sich die Spielerinnen und Spieler die Figur Adamec wechselweise an und über und werden so von der handkeschen Gemeinschaft aus Beobachterinnen und Beobachtern, Erzählerinnen und Erzählern zu (Sich-ihren-)Teil-Nehmenden, Probierenden, Spielenden, zu Bewohnerinnen und Bewohnern einer Welt-Provinz namens Humpolec. 

Eine Annäherung an den Schriftsteller Peter Handke. 

 

 

Marcel Heuperman, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold, Hanna Hilsdorf
Marcel Heuperman, Mavie Hörbiger, Franz Pätzold, Hanna Hilsdorf
© Matthias Horn
Vor Kurzem ist bei Ihnen in zwei aufeinanderfolgenden Nächten eingebrochen worden.

Was nicht niet- und nagelfest war, lag verstreut auf dem Boden, Briefe, Manuskripte, alte Polaroids, Fotografien. Es wurde nichts zerstört oder gestohlen. Nur die Fußmatte ist nicht mehr da. Die Bilder an der Wand wurden abgenommen, um zu sehen, ob da ein Tresor ist, in dem ich meine Juwelen verstecke. Die spanische Übersetzung eines Buchs von mir lag im Klo. In dem Moment dachte ich, ich bin persönlich gemeint. Ich mag das Wort Trauma nicht, aber ich fürchte, ich werde diesen Moment nicht vergessen. Er wird wiederkommen als schmutzige Welle. 

Welches Ihrer Bücher lag im Klo?

Das sage ich nicht.

Sie wohnen seit 31 Jahren in einem unauffälligen Haus in Chaville bei Paris. Waren Sie in beiden Nächten zu Hause?

Nein, ich habe in Paris übernachtet.

Vermuten Sie, es war beide Male derselbe Täter?

Ja, nach dem ersten Einbruch habe ich versucht, meine Art von unordentlicher Unordnung halbwegs wiederherzustellen, aber in der Nacht darauf wurde das gleiche noch mal gemacht.

Als vor Jahren schon mal bei Ihnen eingebrochen worden war, haben Sie als Abwehrzauber Wildschweinzähne und Vogelfedern an Ihre Haustür geklebt. Lassen Sie jetzt eine Alarmanlage installieren? 

Hören Sie auf. Alle geben mir jetzt gute Ratschläge. Ich soll mir einen Hund anschaffen oder Videoüberwachung.

Mögen Sie Hunde?

Manchmal rührt mich ein Hund. Dann denk ich, der möchte Mensch werden. Können wir jetzt bitte über etwas anderes reden?

Welche Erinnerungen haben Sie an den 10. Oktober 2019?

Ich war beim Schuhputzen, als um zwölf Uhr mittags das Telefon läutete. Die ausländische Vorwahl hat mich nicht gewundert, weil ich einen Anruf von einem Anwalt in Den Haag erwartete. Ein freundlicher Mann stellte sich als Anders Olsson von der schwedischen Nobelpreisakademie vor und hat sehr schön Deutsch gesprochen.

Fürchteten Sie einen Telefonstreich, oder glaubten Sie dem Anrufer, Sie seien mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden?

Ich bin leichtgläubig. Der Mann aus Schweden bat mich, die Nachricht in der nächsten Stunde nicht öffentlich zu machen. Die Bekanntgabe solle durch die Akademie erfolgen.

Wen haben Sie vorab informiert?

Ich habe nur meine Frau Sophie angerufen, war aber meinem Versprechen treu, den Mund zu halten. Ich sagte nur: »Hör um 13 Uhr die Nachrichten.« Sie hat gedacht, es ist was Schlimmes passiert. Auf meinem Handy rief dann Raimund Fellinger an…

... Ihr langjähriger Lektor beim Suhrkamp Verlag, der vergangenes Jahr gestorben ist.

Ich hatte ihn noch nie weinen gehört. Der Raimund hat so laut geweint, dass ich glaube, er hat sich wirklich gefreut. Er konnte nach seinem Schlaganfall ja nicht mehr sprechen, aber wie er weinte, war eine besondere Sprache. Ein richtiges Heulen eigentlich. Es gibt ja auch ein schönes Heulen.

Die Bekanntgabe des Preisträgers erfolgt jedes Jahr Anfang bis Mitte Oktober. Haben Sie alljährlich gefiebert zu gewinnen, oder hat das Thema Sie irgendwann nicht mehr beschäftigt?

Geistig habe ich mich nicht damit beschäftigt, aber beschäftigt hat es mich schon. 

Was war Ihre erste Reaktion auf Olssons Mitteilung?

Seltsamerweise war ich überrascht und wieder nicht überrascht. Als ob es normal wäre. In den Tagen zuvor hatte ich nur gedacht, hoffentlich ist es niemand, durch dessen Wahl ich mich geschmäht fühle. 

Hatten Sie bei Olssons Nachricht Triumphgefühle?

Oh nein! Wirklich nicht. Es war aber mehr als Freude: ein Gefühl von Frieden, das ich selten in mir habe. Eine Art Übereinstimmung, eine Objektivierung, dass ich, für den Moment zumindest, nicht mehr das Subjekt Peter Handke bin, sondern ein objektiviertes Wesen.

Mit Ihren Texten zu Jugoslawien polarisieren Sie die Öffentlichkeit seit 25 Jahren wie kein zweiter deutschschreibender Schriftsteller. Wie schnell war Ihnen klar, Ihre Wahl würde einen Skandal auslösen?

Nicht sofort, überhaupt nicht. Erst nach vier, fünf Stunden, während derer ich durch die Wälder gezogen bin und auf dem Friedhof von Chaville war, habe ich dann doch gedacht: Heute ist ja die Frau da, die sich um mein Haus kümmert, um das Wort Zugehfrau zu vermeiden. Ich habe sie angerufen, und sie, eine ganz ruhige, starke Person, hat gesagt: »Was ist denn los? Warum stehen so viele Leute vor dem Gartentor?« Ich sagte: »Ich will mich nicht verstecken. Ich komme in einer halben Stunde.« Und dann ging es los. Da standen 30, 40 Journalisten und stellten mir Fragen, bei denen es keinen Moment um Literatur ging. Kein einziger hatte irgendwann ein Buch von mir gelesen.

Es hieß, die Akademie habe Sie in Stockholm von Bodyguards begleiten lassen. Ist das üblich, oder war das eine Sonderreglung für Sie?

Das weiß ich nicht. Als ich 2014 in Oslo den Ibsen-Preis bekommen habe, waren da fünf Bodyguards. Es gab Demonstrationen und ein Spalier von Leuten, die »Faschist!« schrien. Ich bin stehengeblieben, weil ich dachte, vielleicht will jemand mit dir reden. Ein norwegischer Fernsehmann behauptete daraufhin, ich wolle die Leute provozieren.

Zu den Gästen, die Sie nach Stockholm eingeladen haben, gehörte Hubert Burda. Für Außenstehende ist Ihre Beziehung zum Verleger von Bunte und Focus schwer zu verstehen.

Na ja, warum wollen Sie alles verstehen?

Burda sagte mal, wichtiger als der Umsatz seines Konzerns sei ihm womöglich, was Sie von ihm halten.

Nicht wichtiger, anders wichtig vielleicht. 

In einem Interview mit dem SZ-Magazin klagte Burda über Sie: »Ich habe mal bei seinem Geburtstag die Tischordnung verändert, weil ich sie fürchterlich fand. Als er das mitkriegte, sagte er: ›Am besten verlässt du sofort das Lokal!‹ Ich hätte seinen gesamten Geburtstag ruiniert und sei ein unmöglicher Mensch, mit dem er nie mehr was zu tun haben wolle. Ich ging raus und marschierte fluchend durch die Wälder: ›Ich lass mich doch von diesem Deppen und Rindviech nicht fertigmachen!‹ Ich glaube, es war Ulla Unseld-Berkéwicz, die sagte, ich solle doch jetzt nicht mit dem Peter brechen, der habe das gar nicht so gemeint.«

Das ist alles Gossip. Die Welt ist Erzählung und nicht Gossip. Außerdem stimmt das hinten und vorn nicht.

Wie war es denn?

Da müsste man sich konzentrieren, aber ich habe keine Lust, mich vor Ihnen auch noch zu konzentrieren. Was Hubert Burda da gesagt hat, ist falsch. Aber gut, ich habe ihn sehr, sehr gern. Ich habe ihn sogar lieb, den Hubert.

Sie kennen sich seit den Sechzigerjahren.

Ja, ja, ich war mal Juror bei den Bambis. Bei der Verleihung saßen Richard Burton und Elisabeth Taylor in der ersten Reihe, und der Burton hat die Whiskyflache unter seinem Sessel gehabt. War ein guter Abend. Einmal muss man auch in der weiten Welt sein.

Wenn Deutsche an den Literaturnobelpreis denken, steht vielen ein Foto vor Augen, das einen entfesselten Günter Grass beim Tanzen mit seiner Tochter Helene zeigt.

Ah ja.

Haben Sie nach dem Essen getanzt?

Wurde da getanzt? 

Ja, bis weit in die Nacht.

Schön fand ich, wie vorher Olga Tokarczuk (rückwirkend als Preisträgerin 2018 ausgezeichnet, Anm. d. Red.) und ich unsere Ansprache hielten. Da war ich ergriffen von der Sprache, von entrückungsvollen Sätzen. Da ging es um Literatur. Diese Momente werden in mir bleiben, und ich hoffe nicht nur in mir. Irgendeine Zeitung schrieb dann, ich sei ergriffen von mir selber gewesen. Diesem Journalisten würde ich ganz gerne eine herunterhauen. 

Hat der Nobelpreis Ihr Verhältnis zu anderen Schriftstellern verändert?

Das frage ich mich auch. Ich kannte vorher schon kaum jemanden, weil ich in diesem doch ein bisschen entlegenen Vorort lebe.

Ein paar Wochen nach Ihrer Auszeichnung fragte Raimund Fellinger begeistert, ob Sie wissen wollten, wie viele neue Auslandslizenzen durch den Nobelpreis verkauft wurden. Sie antworteten: »Ach, eher nicht.« Können Sie die Auflagensteigerung Ihrer Bücher seit Ende 2019 beziffern?

Nein, ich will das gar nicht wissen. Vielleicht ist es Feigheit von mir, weil ich nicht enttäuscht sein will.

Wo bewahren Sie die Nobelpreis-Medaille auf?

Ich glaube, die habe ich meiner Tochter Léocadie gegeben.

Was haben Sie mit dem Preisgeld gemacht, immerhin 830 000 Euro? 

Ist auf der Bank, denke ich.

Kriegen Sie Zinsen?

Doch, ja. Man muss es anlegen. Das ist fast ein Zwang, weil man sonst Strafzinsen zahlen muss. Fragen Sie mich aber nicht, wie das angelegt ist. Irgendwas mit Spar oder so. 

Begreifen Sie, was Ihr Bankmensch sagt? 

Ich höre da immer so zu und tue so, als ob ich alles verstehe. Aber dann sage ich am Ende: »Machen Sie, wie’s Ihnen recht ist.« So, können wir jetzt über den Friedensnobelpreis reden?

Wie haben Sie reagiert, als Bob Dylan 2016 den Literaturnobelpreis erhielt: Ja, geht in Ordnung, oder: Wo sind wir denn jetzt gelandet? 

Nicht gelandet, aber eher das Letztere. Nichts gegen diese ganz große Gestalt. Ich habe während Covid viele frühe Lieder von Bob Dylan gehört, Masters of War, Anfang Sechziger. Diese Frechheit, mit der er singt, diese Überzeugung, dass er die Welt ist, das hat mir schon sehr gefallen. Als Sänger ist er so nah an der Ewigkeit wie keiner. Aber Literatur ist doch, für mich zumindest, etwas zum Lesen. Auch Dylans geschriebene Sachen geben einem nicht wirklich was zu lesen. Aber vielleicht ist das die Postmoderne, die ich nicht verstehe. 

In Interviews sagen Sie oft, Schreiben sei für Sie eigentlich eine Frechheit.

Es gibt ja auch eine schöne Frechheit. Ohne Frechheit kann man überhaupt nichts aus sich herausbringen. Schreiben ist für mich ein Tabu, ein Frevel, ein Ausnahmezustand.

Legitimiert der Nobelpreis Ihr Schreiben?

Meine Legitimation habe ich in mir. Ich brauche da keine äußere. Aber wie ich gesagt habe: Zu der inneren Legitimation kam eine flüchtige äußere dazu, die mich zwei Stunden lang ruhig sein ließ wie selten in meinem Leben.

Es gibt Autoren, die behaupten, über dem Nobelpreis liege ein Fluch.

Ah ja? Jetzt bin ich neugierig.

Als Albert Camus von der Verleihung des Nobelpreises an ihn erfuhr, wurde er krank und notierte in sein Tagebuch: »Seit jeher hat jemand in mir mit allen seinen Kräften versucht, niemand zu sein.« Samuel Becketts Frau stürzte, nachdem sie im Radio vom Nobelpreis für ihren Mann gehört hatte, auf diesen zu und rief: »Jetzt sind wir erledigt!« Schreibt es sich erst einmal schwerer, wenn man den Preis aller Preise gewonnen hat?

Das ist schon wahr. Was Camus mit dem niemand sein wollen von sich gab, ist auch bei mir ein immer wiederholter Spruch, der kein Spruch sein will. Man muss so tun, als ob nichts wäre. Wenn ich in der Arbeit bin, spielt nur noch die Sprache eine Rolle, die Bilder, der Rhythmus. Aber man kann nicht jeden Tag arbeiten. Das Schreiben ist immer noch eine ungeheure Ausnahme für mich, die sehr mit Angst und Tabubruch verbunden ist. Diese Angst wird stärker und beginnt schon vor dem Schreiben. Sie hat aber nichts mit dem Nobelpreis zu tun. Es ist das furchtbare Gefühl, dass es nicht geht mit dem Schreiben.

Manche Schriftsteller machen den Eindruck, sie halten sich nach dem Nobelpreis für lebende Denkmäler.

Ach ja? Sie können schon viele Sorgen um mich haben, aber nicht solche. Ich bin ein Menschenkind.

Sprach man Grass auf sein statuarisches Gebaren an, sagte er, nicht er habe sich durch den Nobelpreis verändert, sondern die Menschen, die ihn umgeben.

Das ist kein Problem von mir. Es wäre, glaube ich, schön, wenn eine Suhrkamp-Sekretärin vor mir zu stottern anfinge, aber keiner stottert vor mir. Ich stottere viel mehr als die anderen.

In Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, steht seit neuestem ein wuchtiges Handke-Denkmal vor dem Regierungsgebäude. Finden Sie die gusseiserne Statue gelungen?

Na ja, sie ist weit weg, und Banja Luka ist eine schöne Stadt. Der Vrbas fließt hindurch und in den Wäldern der Umgebung gibt es Pilze. Ich habe Banja Luka gern.

Wie monumental ist Ihr Denkmal?

Mir kommt es vor, es sei größer als ich und vor allem mächtiger, also pseudomächtiger. So wie halt Denkmäler auf dem Balkan eben sind.

Hatten Sie Ehrfurcht vor sich selbst, als Sie vor Ihrem Abbild standen?

Wenn ich meine Augen im Spiegel finde, bin ich manchmal von mir selber gerührt. Das tut mir manchmal gut. Aber bin ich von meinem Existieren gerührt? Nein, eher von der Existenz des Menschen.

Trägt so ein Denkmal …

… Ich möchte mit dem Denkmal jetzt aufhören.

Trägt so ein Denkmal dazu dabei, dass Sie vermehrt über Ihren Nachruhm nachdenken?

Man denkt darüber nach, aber es ist kein Denken, sondern total blödes, automatisches Pseudodenken. Ich zähle zu den Opfern, aber ich kann nichts dagegen tun.

Claus Peymann sagte vergangenes Jahr: »Ein einziger Stadtteil von Wien hat ja mehr Genies hervorgebracht als ganz Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder die Schweiz. Was hier an Genies herumläuft, ist ein Wahnsinn. Aber das wollen die Österreicher selbst nicht glauben. Darunter leiden die lebenden Genies. Auch Peter Handke.«

Na ja, das ist Claus Peymann, so redet der. Nur hänge ich natürlich an Österreich. Es ist das Land meiner Mutter, meiner Großeltern. Es hat mir aber gutgetan wegzugehen. Im Sommer war ich in meinem Heimatkaff. Da saßen die Alten vorm Wirtshaus herum, und ich lud mich ein, mich dazuzusetzen. Das war sehr schön. Und dann haben die gefragt, warum ich eigentlich nicht zurückkomme, so könnten wir jeden Tag dort sitzen und trinken. Ich dachte: wow. Aber dann habe ich an das Haus hier gedacht und an die Familie hier. Nirgendwo ist Heimat, nirgends. Meine Mutter hat immer von Leuten gesprochen, die keinen Ort finden wie die Säge, die hin und her gezogen wird.

Neben Léocadie haben Sie ein zweites Kind, Amina, 52. Lesen Ihre Kinder Ihre Bücher?

Ich weiß nur von Léocadie, dass sie ein paar Sachen von mir gelesen hat. Wir haben gemeinsam die französische Übersetzung von meinem Roman Die Obstdiebin korrigiert. Sie ist beim Verlag Gallimard als Lektorin angestellt. Im Juni hat sie ein Kind bekommen und ist jetzt in der, wie sagt man: Kindschaft? Mutterschaft?

Mutterschutz? Elternzeit?

So was, ja.

Sie sind zum ersten Mal Großvater geworden. Fühlt sich das an wie… 

… Ach, hören Sie doch auf. Ich bin einfach froh, dass meine Tochter wirklich ein Kind gekriegt hat. Es war ihr Traum. Ich habe ihren Augen die Sehnsucht angesehen, wenn sie kleine Kinder gesehen hat. In ihren Augen hat dann Zärtlichkeit und Sanftmut gespielt. Meine Sorge als Vater war die Geburt des Kindes. Léocadie wollte keine Schmerzmittel nehmen. Es war eine langwierige Geburt. Am Ende haben alle Krankenschwestern ihr applaudiert.

Amina ist kinderlos. Wünschen Sie sich möglichst viele Enkelkinder?

Meine Frau hat gestern gesagt: »Ist doch schön: eine Dynastie.« Ich habe geantwortet: »Was ist denn das für ein Scheißwort: Dynastie?« Handke ist eigentlich nicht mein Name. 

Weil der deutsche Wehrmachtssoldat Adolf Bruno Handke nur Ihr Stiefvater war.

Der slowenische Name meines Großvaters ist Sivec. Das heißt »der Graue«. Es gefällt mir gut, Sivec zu heißen. 

Ihre Enkelin heißt mit Vornamen Hilda. Hilda Handke?

Sie hat einen Doppelnamen. Den Familiennamen des Vaters und dann Handke.

Wie war es für Sie, als Ihre Kinder erwachsen wurden?

Wenn die Kinder beginnen, ihr eigenes Leben zu führen, ist das furchtbar und schmerzhaft. Das war eine Zeit der Fremdheit, wo man sein Kind nicht mehr versteht, ohne dass es eine Schuld gibt.  

Amina ist als junges Mädchen durch Ihre 1981 erschienene Kindergeschichte in die Literatur eingegangen. Wie denkt Sie heute darüber?

Einerseits ist es ihr essenziell, andererseits hat es sie behindert. Glaube ich. Gesprochen hat sie mit mir nie darüber.

Hatten Sie Scheu, Amina zwischen zwei Buchdeckel zu bringen?

Nein, ich habe sehr abstrahiert, so wie Cézanne seinen Sohn gemalt hat. Das große, schöne Abenteuer autobiographischer Literatur ist: Du bist versucht zu abstrahieren, damit es allgemeingültig wird, wie es so schön heißt, aber du musst zugleich das Konkrete mitschwingen lassen. Das ist die eigentliche schriftstellerische Arbeit heutzutage. Im 19. Jahrhundert hat man mitten ins Leben geballert.

Soll eins Ihrer Kinder Ihren Nachlass verwalten?

Léocadie. Die wird das schaukeln.

Weil Philip Roth sein posthumes Image selbst bestimmen wollte, verfasste er eine mehrere hundert Seiten lange Handreichung für künftige Biographen…

… Inschallah! Er lebe wohl.

Wie stellen Sie sich Ihr literarisches Nachleben vor?

Literatur ist das Zentrum der Menschheit. Ich kann nicht glauben, dass mein Werk vergänglich ist. Es kommt, was kommt, aber es wird was kommen. Ich bin zugleich hoffärtig und total bescheiden. Wenn ich zufällig, nicht absichtlich ein Buch von mir aufschlage, denke ich: Mensch, das ist Prosa! So gehen die Sätze der Literatur. Das kann nicht von dir sein. Manchmal denke ich, es wäre schön, noch eine letzte Lesereise zu machen. Wie sagt Jesus: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.

Zwischen 1975 und 2015 haben Sie an 14 600 Tagen in 221 Notizbüchern mehr als 33 000 Seiten in winziger Schrift vollgeschrieben. 

Die kleinen Notizbücher, die in die Hosentasche passen, sind die entscheidenden. In ihnen notiere ich spontane Anflüge. Sie sind wie kleine Waffen. Oh, ich liebe Waffen.

Gendern Sie?

No sir.

Gendert Léocadie?

Das lassen Sie ihre Sorge sein. Ich habe Ende der Siebziger The Moviegoer von Walker Percy vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzt. Das Buch spielt im New Orleans der Nachkriegszeit. »Negroe« habe ich mit »Neger« übersetzt. 30 Jahre später kam ein empörter Brief einer Leserin, warum da »Neger« steht. 

Was haben Sie geantwortet?

Nichts. Die Frau war so empört, da braucht man nicht mehr zu antworten.

Wie würden Sie »Negroe« heute übersetzen?

Das frage ich mich auch. Darf man »Schwarzer« sagen? Ach, ist das langweilig dieses Zeug. Sprache ist wichtig, aber nicht die Terminologie. Es gibt immer noch eine anfliegende und zugleich urwüchsige Sprache, und die ist das Gegenteil von all diesem Scheißdreck. Diese Sprache ist die einzige, die erzählt und zählt. Niemand soll mir irgendwas anderes nahelegen oder unter den Hintern schieben.

Der Zeit-Journalist Peter Kümmel fragte Sie 2014, ob aus Ihnen ein Amokläufer werden könne. Sie antworteten: »Ich hab manchmal richtig Angst vor mir, dass das mal passiert. Für nix und wieder nix. Dass ein Zitronenkernchen auf den Boden fällt, und das ist so glitschig, dass man’s nicht aufheben kann, und man zündet das ganze Haus an.«

Zorn ist eine Form der Begeisterung, eine Art Liebe, aber ich bin eigentlich nicht einmal mehr zornig. Das fehlt mir.

Hat Verachtung Ihren Zorn verdrängt?

Wenn ich verachte, ist das eine physische Sache. Einmal am Tag kommt dann der Moment, wo ich spüre, dass ich im Unrecht bin. Das ist kein schönes Drama in mir. Ich habe gedacht, dass meine ungute Reizbarkeit mit dem älter werden besser wird, aber das ist nicht so. Auf der anderen Seite kann ich heute viel besser mit Leuten reden. Ich frage sie sogar, wie es um sie steht.

Es heißt, wenn Sie mit engen Freunden zusammen sind, suchen Sie öfters den Schwächsten aus und machen ihn ohne ersichtlichen Grund mit rasender Vernichtungswut nieder.

Das ist sehr selten, aber es ist schon vorgekommen. Es ist immer einer dabei, wo man spürt, der hat überhaupt keine Ahnung, führt aber das große Wort. Dann entsteht ein Widerstand in mir: Den möchte ich jetzt weghaben! Hinterher tut mir das immer furchtbar leid. Dem anderen geht es danach viel besser als mir, glaube ich.

Das sehen Ihre Freunde anders. Ihr Niedermachen soll zu furchtbaren Entzweiungen geführt haben.

Jetzt bin ich vorm Tribunal oder was? Sind wir in Den Haag oder wo? Es sind nie dauerhafte Entzweiungen gewesen, nie. Thomas Bernhardt hat sich Übertreibungskünstler genannt. Meine Übertreibungen in diesen Momenten sind wirklich keine Kunst. Das gehört sich einfach nicht, wie ich dann bin, war. Ist schon länger nicht mehr passiert. Aber Sie können da natürlich wieder ein Drama draus machen, warum nicht.

Peter Kümmel vermutet, tief in Ihnen stecke ein verzweifelter Entertainer.

Vor Verzweiflung habe ich Angst. Wenn man verzweifelt, ist man tot. »Verzweifelt« darf man über einen sagen, aber nicht schreiben. Das ist ein großer Unterschied für mich. Entertainer, das ist für mich das Schlimmste überhaupt. Die Literatur besteht heute fast nur noch aus Entertainern. Das ist für mich das Widerlichste. Ich fange jetzt schon wieder an zu schimpfen.

Mündlich können Sie ein hochkomischer Entertainer sein. Als…

… Jetzt kriegen Sie eins drübergezogen von mir.

Als Ihnen der Satz einfiel: »Rolf Dieter Brinkmann, dicklich und zugleich dämonisch, ist der Orson Welles der Lyrik«, kommentierten Sie das mit den Worten: »Manchmal denke ich mir, du hättest Werbetexter werden sollen.«

Solche Sachen würde ich aber nie schreiben. Ich werde nicht als Werbetexter bezahlt, von Ihnen auch nicht. Ich mag nicht blödeln, aber blöd reden schon. Man weiß, es stimmt alles nicht so ganz genau, und dann wird es doch wieder ernst. Der Ernst selber sagt zu einem: »Jetzt ist genug, jetzt gehst du wieder hinüber ins Spiel.« Wie Goethe sagt: das ernste Spiel. Kein Spielgetue. Das ernste Spiel ist mein Ideal, wenn ich Theaterstücke schreibe.

Der französische Filmstar Jeanne Moreau schrieb Ihnen 1974: »Du bist die Liebe meines Lebens.« Sie schrieben zurück: »Du bist meine erste und letzte Liebe.«

Bescheuert, oder?

Sie waren eben verknallt.

Verknallt? Jetzt kriegen Sie vier Stunden Hausarrest. Das war eine schöne, edle Geschichte. Was will man mehr? Sie war ein dankbarer Mensch, der von kleinen Dingen bewegt wurde, aber der Altersunterschied hat schon eine Rolle gespielt. Ich war 14 Jahre jünger. Jetzt höre ich auf mit meiner Süffigkeit.

Moreau sagte, sie werde die Liebesbriefe von Ihnen vor ihrem Tod verbrennen. Hat sie Ihre Ankündigung wahrgemacht?

Nein, die gibt es noch. Ich wurde von der Jeanne-Moreau-Gesellschaft in Paris sogar gefragt, ob man die veröffentlichen kann. Ich habe Nein gesagt.

Sie sind 78. Wird man sich im Alter mehr und mehr zur Farce?

Wenn man zu sehr alleine ist, ja. Nicht mit anderen. Da spiele ich noch gut mit. Als Alleinspieler werde ich mir selber unheimlich. Ich spiele nichts mehr beim allein sein. Das ist schlimmer als eine Farce. Nur im Schreiben bin ich noch ein guter Alleinspieler. Da fühle ich mich für manche zarte Momente in Sicherheit. Aber nur da. Sonst nirgends mehr.

Deprimiert Sie das Alter?

Es gibt eine schöne Redensart: Ich kann nicht klagen. Ich würde gerne klagen können. Manchmal fehlt mir das. Klagen können kann eine schöne Sache sein. Es kann auch schöne Literatur sein. Im Alten Testament wird noch und noch geklagt. Aber ich kann es nicht. Noch nicht. Manchmal fühle ich mich schon ein bisschen an der Schwelle zur Klage.

Wie alt sind Sie auf Ihrem inneren Passfoto?

Inneres Passfoto? Normalerweise gehören Sie eingesperrt für drei Stunden für so ein Wort.

Max Frisch schrieb mit 70: »Man ist im Alter ungeheuer bedroht von Langweile, Langeweile vor sich selbst.« Richtig?

Ja, aber mit Langeweile bin ich geboren. Beim Kühe weiden war es mir langweilig, im Internat war es mir langweilig mit den anderen, in der Kirche war es mir langweilig. Jetzt ist mir in der Messe weniger langweilig als früher. Aber mir selber bin ich langweilig.

Sind Sie Ihrer selbst überdrüssig?

Manchmal schon. Wenn ich nichts zu lesen habe oder zu studieren. Das ist fast eine Angst. Zum Glück habe ich die Odyssee im Original wieder neu angefangen. Ich überspringe alles, wo Action ist, wo getötet wird, wo geblendet wird. Reich-Ranicki würde dem Buch Wortwiederholungen und schlampige Hexameter ankreiden, aber das weht seit 3000 Jahren.

Sie übersetzen die Seiten Wort für Wort vom Altgriechischen ins Deutsche.

Mit einem tollen Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert von Karl Schenkl, einem dienstbaren Geist.

Wie lange brauchen Sie für eine Doppelseite?

Eine Woche. Ich übersetze sechs, sieben Verse am Tag. Ich muss jeden Genitiv verstehen und jeden Aorist.

Als Sie 2008 nach Ihrem nächsten großen Projekt gefragt wurden, antworteten Sie: »Wenn es mich mit 80 noch gibt: eine Art Autobiographie. Alles nur von den Dingen aus: Was war Schnee für mich? Was sind die Augen von Menschen?« Der Titel des Buchs sollte Betrachtungen meiner Irrtümer lauten.

Das Projekt habe ich wieder vergessen. Ich möchte schon auf der Erfindung beharren. Die Erfindung ist ja eine Gnade. Du kannst nicht in Schreibschulen lernen, wie man erfindet. Das Erfinden fliegt einen an durch ein gewisses offen sein, auch verletzt sein und dann wieder ruhig werden. Das macht mich immer noch nicht scharf, aber heiß. Ich spüre, ich habe noch was zu geben, nicht der Mehrheit, aber auch nicht wenigen. Einmal für den, dann für jenen, sage ich gern.

Ihre Freunde Peter Hamm, Alfred Kolleritsch und Adolf Haslinger sind gestorben, ebenso Ihr Halbbruder Hans. Fühlen Sie sich als Überlebender?

Überlebend, ja. Und in düsteren Momenten zugleich auch überzählig. Das wird verstärkt und akzentuiert durch das Sterben der anderen.

Grass sagte mit 83, er habe nicht mehr die Kraft für einen großen Roman. Deswegen schreibe er jetzt Gedichte. Haben Sie auch einen Plan B? 

Was geht denn Sie das an? Ich möchte schon weitertun. Das Epische in mir ist lebendig, aber noch nicht spruchreif, oder wie soll ich sagen?

Der Schriftsteller Karl Julius Weber wählte als seine Grabinschrift: »Hier liegen meine Gebeine, ich wollte, es wären deine.« Lustig?

Das ist ein Scheiß, widerlich. Es gibt den Witz: »Sagt ein Freund zum anderen: ›Wenn einer von uns beiden stirbt, besuche ich dich auf dem Friedhof.‹« Den finde ich ganz gut. Der Hubert Burda hat mir einen Witz erzählt, wo zwei Besoffene nachts ins Offenburger Krankenhaus eingeliefert werden. Als sie am Morgen aufwachen, haben beide einen Kopfverband und wissen nicht, wo sie sind. Der eine geht zur Tür, schaut hinaus und kommt verdattert zurück: »Du, ich glaube, wir sind in Indien.« »Warum?« »Da steht ein Schild: Die Toiletten sind am Ende des Ganges.«

Werden Sie kurz vor 80 zum Humoristen?

Ach, Humor. Ich sage mit Goethe, Humor ist ein Zeichen der abnehmenden Kunst.

Ist die große Frage im Alter, wer von denen, die man liebt, einen auch lieben?

Das Entscheidende ist die Frage: Liebe ich? In Über die Dörfer heißt es: Lieb einen - das genügt für alle. Man soll nicht so morbid herumreden, aber ich wünsche mir schon, auf dem Sterbebett Liebe zu spüren. Aber als das Wünschen noch geholfen hat, ist schon lange vorbei.

Als das Wünschen noch geholfen hat heißt eins Ihrer Bücher aus den Siebzigern. 

Letzte Woche habe ich einen Dialog geschrieben, wo am Ende steht: »Vielleicht wird das Wünschen wieder mal helfen.«

Als Journalist kann man mit Ihnen kein Interview führen, ohne Ihre Parteinahme für Serbien anzusprechen. Wenn Sie zurückblicken: Welche Fehler haben Sie gemacht? Bereuen Sie etwas?

Ich bin dankbar für das, was ich gemacht habe. Überhaupt nicht stolz, aber dankbar. Einiges habe ich ungeschickt oder nicht ganz klar ausgedrückt. Das habe ich zu verantworten. Aber jeder Mensch, der ein bisschen weiß, wie ich bin, wird verstanden haben, wie ich es meine. Ich sehe an mir keine Schuld. Ich fühle mich oft schuldig im Leben, aber da nicht.

2012 sagten Sie in einem Gespräch mit Ihrem Freund Luc Bondy: »Wenn ich im Leben je ins Politisieren gekommen bin, wusste ich genau, ich hab jetzt eine Schwelle überschritten zur Idiotie.« Hätten Sie aufgrund dieser Einsicht besser schweigen sollen?

Ich habe in meinen Balkanerzählungen nie politisiert, kein Wort. Beim Reden entfährt mir manchmal was, aber in meinem Schreiben nie. Das Schreiben ist meine Instanz.

Slobodan Milošević wurde vom UN-Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes angeklagt. Sie haben ihn in Den Haag im Gefängnis besucht. War das törichte Naivität oder eine kalkulierte Demonstration?

Ein Mensch, der im Gefängnis sitzt - da würde ich immer hingehen und ihn anhören. Sonst wäre ich kein Mensch. Als ich in Kronberg im Taunus gewohnt habe, wollte ein ehemaliger KZ-Kommandant, dass ich ihn im Gefängnis besuche. Natürlich bin ich hingegangen. Er hat dann nur Rechtfertigungen losgelassen. Milošević wollte mich als seinen kleinen Geschichtsschreiber benutzen. Ähnliches habe ich bei Bruno Kreisky erlebt. Er war damals noch österreichischer Bundeskanzler. Wir saßen zum Essen hinter einer Spanischen Wand, und er hat mir Vorträge für die Nachwelt gehalten. Beide hat keinen Moment interessiert, wer ich bin. Sie suchten einen Zeugen. 

Auf Ihrer Reise in den Kosovo und nach Serbien im Mai dieses Jahres wurde Ihnen der höchste Orden der Republika Srpska verliehen. Den haben vor Ihnen unter anderen die verurteilten Kriegsverbrecher Radovan Karazdic und Ratko Mladic bekommen. Muss Ihnen diese Gesellschaft nicht unangenehm sein?

Das hat mir mein Freund Emir Kusturica erst im Nachhinein erzählt. Das war, bevor Milorad Dodik Vorsitzender des Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina wurde. Seitdem haben den Orden auch ein Holocaust-Überlebender und der Tennisspieler Novak Đoković bekommen. Und das genügt, oder? Es gibt zwei Phasen dieses Ordens. Ich sage das nicht als Rechtfertigung, aber als Feststellung. 

Der marxistisch geschulte Dramatiker Heiner Müller sagte nach dem dritten Whisky gern, Künstler seien Idioten, sobald es um Politik gehe. Sind Schriftsteller grundsätzlich eine Fehlbesetzung, wenn es um politische Analysen geht?

Ich wurde auf dem Balkan mal von einem Reporter der Süddeutschen Zeitung mit der Frage begrüßt: »Herr Handke, was machen Sie denn hier?« Ich habe ihn gefragt: »Und was machen Sie hier?« Jemand musste doch das literarische Wort ergreifen. Es war doch recht, dass ich das getan habe. Das musste doch sein. Ich habe nie recht, aber manchmal bin ich im Recht. Ich akzeptiere es wohl, dass ich dadurch auf eine gewisse Weise geächtet wurde oder bin … bin, ja. 

Seit einem Vierteljahrhundert wird mehr über Ihre Meinungen zum Balkan gesprochen und geschrieben als über Ihr Werk. Es muss Sie doch in den Wahnsinn treiben, dass viele Ihre Bücher gar nicht erst lesen, weil sie denken: Handke? Ach, das ist doch der mit dem Serbien-Hau.

Dann ist es recht so. Dann sind das auch keine Leser mehr. Dann dürfen die sich nie mehr als Leser bezeichnen. Wer mich nicht liest, ist kein Leser. So ist es. Ich bin die Literatur. Das weiß ich. Und ich bin geächtet. Aber indem ich als Schriftsteller geächtet werde, wird die Idee der Literatur geadelt.

Ist die Selbstdemontage, die Sie in Momenten wie diesen mit Ihrem Fickt-euch-alle-Gestus betreiben, die irrste Form von Größenwahn?

Da ist überhaupt nichts dran. Ich möchte in einem guten Sinn gefallen. Das ist meine Grundeigenschaft. Ich möchte Gefallen erzeugen nicht an mir, sondern an Kieselsteinen und Schmetterlingen. Jeder Vogel fliegt anders. So, jetzt lassen wir es.

 

Das Interview führten Malte Herwig und Sven Michaelsen für das Süddeutsche Zeitung Magazin. Es ist in der Nummer 38 am 24. September 2021 erschienen.

ZDENĚK ADAMEC

Peter Handke

Regie: Frank Castorf

Nur die Toten kennen Humpolec. Aus der kleinen böhmischen Stadt, auf halbem Weg zwischen Brünn und Prag, macht sich am Abend des 5. März 2003 der 18-jährige Schüler Adamec mit dem Überlandbus auf den Weg in die tschechische Hauptstadt. Dort übergießt er sich am nächsten Morgen auf dem Wenzelsplatz mit Benzin und zündet sich an. Am selben Ort hatte sich 1968 der Student Jan Palach aus Protest gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen selbst verbrannt. So wie Palach seine Aktion „Fackel No. 1“ genannt hatte, so übertitelte Adamec seinen im Internet veröffentlichten Abschiedsbrief mit „Fackel 2003“.

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