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MEHR ALS EINER

 

Es heißt, der Mensch versteht nur das, was er selbst erlebt hat. Das glaube ich gern. Ich verstehe sehr viel nicht, denn ich habe in meinem Leben noch zu wenig erlebt. Das Jahr 2013 war für mich jedoch in jeder Hinsicht ein Zeichen. Das Spektrum des Erlebten reichte vom völligen Abtauchen in die Dunkelheit bis zu Tränen der Trauer und der Reinigung, vom völligen Verlust meiner selbst bis zu dem Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu haben – und sogar einen Himmel über dem Kopf. Ob dieser Himmel friedlich sein wird, ist eine Frage der Zeit, mehr nicht. Es war wichtig zu wissen, dass es ihn überhaupt gibt. 2013 feierte ich meinen dreißigsten Geburtstag, und es waren genau drei Jahre, seit ich durch meine Übersiedlung von Kiew nach Wien zur Emigrantin geworden war. Im Frühling, genauer gesagt im März, zeigten sich die ersten Symptome einer Angststörung. Damit begann mein persönlicher Maidan. Er begann bereits im März 2013.

Während der ersten Panikattacke hätte ich mich notfalls aus dem Fenster gestürzt, nur damit sie aufhört. Danach verließ ich einen Monat lang nicht das Haus, aus Angst, ich könnte Angst bekommen, und so war es auch. Diese grundlose Angst begleitete mich von da an jeden Tag, jede Minute: Sie verwandelte sich in etwas Absolutes, in ein Ding an sich, und machte mich zu ihrer Gefangenen. Im Scherz behauptete ich, dies sei die Rebellion meiner Wurzeln, mein innerer Aufstand, auf diese Weise räche sich die Ukraine an mir.

Die Übersiedlung nach Österreich hatte keine politischen Gründe, sie war nicht geplant, alle Entscheidungen fielen spontan und blitzartig. Mein Mann ist Österreicher, ich fühle mich überall wohl, wo es einen Tisch und einen Computer gibt, sagte ich mir, das Mittelalter ist vorbei, heutzutage existieren diverse Möglichkeiten, um mit Familie und Freunden in Kontakt zu bleiben, ich war und bin Ukrainerin, die Entfernung zwischen Wien und Iwano-Frankiwsk, meiner Heimatstadt, beträgt gerade mal 700 Kilometer ... und so weiter.

In Wahrheit bin ich geflüchtet: vor der Ukraine und vor mir selbst.

Zum Zeitpunkt dieser Flucht war Wiktor Janukowytsch bereits ein Jahr Präsident. Ich arbeitete als investigative Journalistin für einen Fernsehsender. Als bekannt wurde, wer die Wahlen gewonnen hatte, brach etwas in mir zusammen. Ich dachte, dass am nächsten Tag in diesem Land vor lauter Scham niemand aufwachen wird, das war ein Hexensabbat, ein Schlag ins Kreuz, jemand spuckte uns ins Gesicht. Aber am Morgen erwachte das Land, rappelte sich hoch, wischte sich die Spucke aus dem Gesicht und überwand den Schock. Schnell gewöhnte es sich an den neuen Alltag. Dieser neue Alltag war brutal und zynisch. Das Verbrechertum hatte seinen Präsidenten bekommen und Legitimität erlangt, der russische Knastgesang wurde zur neuen ukrainischen Hymne. Ich und Millionen andere wurden zu Geiseln von Grobheit und Gewalt. Der oberste Parasit ließ sich auf dem vermoderten Staatsgerüst nieder, das die Ukraine fast widerstandslos und ohne Modifikationen aus der Sowjetunion übernommen hatte, und triumphierte. Sehr schnell versammelte er seinesgleichen um sich, schuf eine neue Hierarchie und begann alles Lebendige und Menschliche auszusaugen. Er war nicht die Ursache, sondern nur die Folge des Zerfalls der ukrainischen Gesellschaft, seine Apotheose. Die Ukraine als eigenständige politische Einheit produzierte nichts als Korruption, Lüge, abgrundtiefen Kitsch und Angst. Das Prinzip des Stärkeren herrschte unumschränkt. Der Sinn ihrer Existenz verflüchtigte sich mehr und mehr: mit jeder neuen Entscheidung der Machthaber, mit jedem neuen politischen Gefangenen, mit jedem neuen Palast, der mit einer drei Meter hohen Stahlbetonmauer vor den Untertanen, den Knechten geschützt wurde, mit der allabendlichen Nachrichtenausgabe der staatlichen Fernsehsender, die vor Lügen strotzte.

Viele meiner Freunde sprachen von innerer Emigration. Viele von ihnen verloren ihre Arbeit. Kluge Journalisten wurden entlassen, statt ihrer systemhörige eingestellt. Eine verrückte Zeitmaschine beförderte uns mit kosmischer Geschwindigkeit in die sowjetische Vergangenheit zurück. Wer nicht mitfliegen wollte, musste mit dem Fallschirm abspringen.

Eine meiner letzten Aufgaben als Journalistin war dem Tag der Unabhängigkeit gewidmet. Gemeinsam mit Kameramann und Fahrer legten wir in drei Tagen zweitausend Kilometer zurück, vom östlichsten Osten bis in den westlichsten Westen; wir besuchten alle wichtigen Orte, an denen sich in verschiedenen Jahrhunderten das Schicksal der Ukraine entschieden hatte, und überall stellten wir dieselbe Frage: »Hatten Sie so eine Ukraine im Sinn, als Sie 1991 für die Unabhängigkeit stimmten?« Niemand antwortete mit »Ja«. Das hatte ich erwartet, doch mich faszinierte etwas anderes. Während einer so weiten Reise, wenn man in kurzer Zeit fast das ganze Land durchquert, erscheint es plötzlich so greifbar, als hätte man es vor sich auf der Handfläche. Damals erschien mir die Ukraine als eine einzige eklige Wunde, mit gebrochenen Menschen, die ihre Vergangenheit nicht kennen und an ihre Zukunft nicht glauben.

Europa hat längst vergessen, was es heißt, stolz auf seine Nationalstaaten zu sein. Europa hat es nicht mehr nötig, seine Identität versteht sich von selbst, sie ist ein Faktum. Bestenfalls ist Nationalstolz hier unangebracht, schlimmstenfalls handelt es sich um eine Reinkarnation des Nationalismus. Links zu sein ist in Europa Ehrensache. Das europäische Linkssein, T-Shirts mit Hammer und Sichel, rote Sterne auf Käppchen — all das war in meiner ersten Zeit in Wien sehr schmerzhaft für mich. Denn ich hatte in meinem Koffer nichts mitgebracht als meine unter der roten russischen Sonne versengte Heimat, eine nach Sibirien deportierte Vergangenheit, ein mit russischer Propaganda vollgestopftes Hirn – und die Angst. Angst, ein Mensch zu sein, Angst, Rechte zu haben, Angst vor der Freiheit und vor der Verantwortung für das eigene Leben.

In den drei Jahren meines Emigrantendaseins suchte ich für mich nach Definitionen, die keine Verneinung, sondern eine Affirmation implizierten, doch ich wurde nicht fündig. Sosehr ich mich auch bemühte und selbst belog, alle in meiner Umgebung, die den von mir zubereiteten ukrainischen Borschtsch kosteten, wussten trotzdem, wer ich bin und woher ich komme. Und je mehr sie wussten, desto heftiger lobten sie meinen Borschtsch. An irgendeinem Punkt hatte ich genug vom Borschtsch und wechselte zur italienischen Küche. Drei weitere Negationen kamen zu meiner Identität hinzu: Ich bin nicht gleich ukrainischer Borschtsch. Ich bin nicht die ukrainischen Lieder. Ich bin nicht die ukrainische Trachtenbluse.

Das einzige Ritual, das mir wichtig war, war das Feiern meines Weihnachtsfestes, genauer gesagt des Heiligen Abends am 6. Januar. Zwölf Fastenspeisen auf dem Tisch, hauptsächlich aus Bohnen, roten Rüben, Kartoffeln, Kraut und Pilzen zubereitet. Ein Bündel Heu unter dem Tisch und ein paar Zeilen aus Großvaters Weihnachtslied, das er – mein Großvater – immer am Heiligen Abend nach dem dritten Gläschen Selbstgebranntem gesungen hatte. »Bruder für Bruder, Schwester für Schwester, sie legen Fesseln an, in Sibirien sterben sie, für die Ukraine.« Jedes Jahr singe ich dieses Weihnachtslied, genauso wie es mein Großvater gemacht hat. Nicht, weil mich der traurige Text berührt. Die ukrainische Folklore ist reich an Verherrlichung sinnloser Opfer für eine Ukraine, die es nach wie vor nicht gibt. Aber wenn ich das Lied singe, spüre ich die Anwesenheit meiner Großeltern, schon lange tot, schweigsam, gebeugt, von Arbeit und Kolchosen verbraucht. Sie oder vielmehr die Erinnerung an sie ist alles, was mir von meinen Wurzeln und jener anderen, echten Ukraine geblieben ist. Die Sowjetunion hatte sie nicht zu Sowjetbürgern gemacht.

Der Mensch versteht nicht, was er nicht selbst erlebt hat. Dem kann ich nur zustimmen. Und bei manchen Dingen wünsche ich mir, dass niemand sie jemals am eigenen Leib erfahren muss. Zum Beispiel das Gefühl der unabwendbaren Niederlage der eigenen Generation. Genau das überkam mich, als bekannt wurde, dass das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet werden sollte. Dass wir wie Vieh nach Asien verkauft wurden, gemeinsam mit unseren verstorbenen Großeltern, mit unseren Werten und Ansichten, mit unseren Freunden und Nichtfreunden, wo wir nicht hingehören, wo wir fremd sind. Die Reste der Wurzeln wurden ausgegraben und auf den Müll geworfen, weit weg von jeglicher Erde, in der sie noch Chancen gehabt hätten anzuwachsen. Ich saß vor dem Computer und weinte.

Aber je mehr man das Fehlen von Ehre und Würde bei anderen wahrnimmt, desto augenscheinlicher wird, wofür man sich selbst entscheiden musste. Je unabwendbarer die Niederlage erscheint, desto wichtiger wird der Kampf. Die Erkenntnis in diesen vielleicht abgedroschenen und sogar banalen Sentenzen hat mir das Leben gerettet. Die Panikattacken kamen nun ununterbrochen. Ich konnte weder schreiben noch sprechen. Mein Körper verlangte nach Solidarität mit jenen Kamikazekämpfern, die auch weiterhin auf dem Maidan in Kiew standen. Drei Tage suchte ich im Internet nach Gleichgesinnten in Wien, nach Ukrainern, deren Körper ebenso nach Solidarität verlangten und die bereit waren, so lange vor der ukrainischen Botschaft in Österreich zu stehen, wie auch der Maidan stehen würde. Einfach stehen, ohne Hoffnung auf Sieg.

Meine Angst ist nicht verschwunden, sie hat sich noch oft zu Wort gemeldet. Vor allem als Menschen zu sterben begannen und ich den dumpfen und bodenlosen Schmerz des unschuldigen Todes miterlebte. Als ich viele Stunden im Zimmer saß, bewegungslos, ohne zu stöhnen, ohne zu schreien, einfach nur dasaß und mir vorstellte, wie viele tote Körper hier, auf dem Boden des Zimmers, nebeneinander Platz hätten. Als mein Mann plötzlich vor meinen Augen in Tränen ausbrach und ich keine Kraft hatte, ihn zu umarmen und zu trösten oder gemeinsam mit ihm zu weinen. Als die Armee des Nachbarlandes mein Land betrat. Mir scheint, ich begann eine Ahnung davon zu bekommen, wer ich bin.

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