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„Uns entgleitet die Logik“

Autor*innentheater Kyjiw

Am 6. Mai 2023 präsentieren wir im Kasino am Schwarzenbergplatz das neue Stück von Natalka Vorozhbyt GREEN CORRIDORS in einer szenischen Lesung mit Regina Fritsch, Lilith Häßle, Caroline Peters, Katharina Pichler, Safira Robens, und Tilman Tuppy.

Am 7. Mai haben Sie Gelegenheit mit der Autorin selbst und weiteren ukrainischen Künstler*innnen aus dem Umfeld des AUTOR*INNENTHEATER KYJIW auf Zoom zu sprechen, aufgrund der Ausgangssperre in Kyjiw muss diese Veranstaltung schon um 16 Uhr stattfinden, das Gespräch wird live aus dem Kyjiwer Theater übertragen, die Teilnahme auf Zoom ist kostenlos, der Link wird über den Burgtheater-Newsletter am 7. Mai versendet.

Interview mit Natalka Vorozhbyt

GREEN CORRIDORS kam in den Münchner Kammerspiele zur Uraufführung, die Produktionsdramaturin Viola Hasselberg stellt Ihnen und uns dankenswerterweise ein Gespräch mit der Autorin Natalka Vorozhbyt zu Verfügung.
Das gesamte Digitale Programmheft der Kammerspiele sowie Vorstellungstermine finden Sie auf der Website der Münchner Kammerspiele.

Viola Hasselberg: Du hast ein Stück über den Krieg mitten im Krieg geschrieben. Hinter dir liegen Monate auf der Flucht. Du bist aus der Ukraine geflüchtet und seither mehrmals dorthin zurückgekehrt. Was bedeuten all diese Erfahrungen für dein Schreiben?
Natalka Vorozhbyt: Die Angst und der Wunsch, Abstand zu gewinnen, um die Situation von außen zu betrachten, treiben mich aus dem Land. Zum Durchatmen. Zurück in die Ukraine treibt mich die Liebe zu meinem Land, meiner Heimat und die Angst, etwas sehr Wichtiges zu verpassen, eine unschätzbare Erfahrung zu verlieren. Dann treibt mich die Angst wieder hinaus, und so geht es immer wieder im Kreis. Meine Nerven sind bis zum Anschlag gespannt. Aber erstmal ist es natürlich wertvoll, dass es für mich eine solche Möglichkeit gibt, meine Lebensumstände und die Distanz zu variieren. Denn viele Menschen, vor allem Männer, haben diese Möglichkeit gar nicht. Ich prüfe mich jedes Mal, ob ich in der Emigration leben könnte – prinzipiell ja, das wäre möglich. Aber jedes Mal, wenn ichzurückkomme, wird mir klar, dass ich nur in der Ukraine leben möchte. In der Ukraine spüre ich, wie groß und stark mein Land ist, wie viele wir sind, das Leben ist in vollem Gange. Ich liebe die Menschen in den Straßen, denn wir sitzen alle im selben Boot, teilen Ängste und Herausforderungen, haben denselben Traum für alle. Je weiter ich mich von der Ukraine entferne, desto mehr spüre ich, wie klein und wehrlos sie ist, dass ihre Stärke unsere innere Illusion ist. Ich erlebe, wie Menschen außerhalb der Ukraine ihr normales Leben führen, sich so weit wie möglich vom Krieg distanzieren, dass sich nur wenige Menschen wirklich für uns interessieren.
VH: Wie hat sich deine Einschätzung des Krieges geändert im Laufe der Monate? Oder hat sich gar nichts geändert?
NV: Die Gründe für den jetzigen Krieg sind dieselben wie vor acht Jahren, als dieser Krieg begann. Russlands imperiale Ambitionen werden durch Neid, Rache und die Verzweiflung eines tollwütigen Tieres, das sich selbst in die Enge getrieben hat, noch verstärkt. Ich war beeindruckt vom Ausmaß der Verbrechen und der Gewalt, die ich mir in unserer heutigen Zeit nur schwer vorstellen konnte. Ich war erstaunt, dass man während der akuten Phase des Krieges zuhause wohnen kann. Dass man sich an Luftund Raketenangriffe gewöhnen kann, dass man sich an Stromausfälle anpassen kann. Wir haben uns alle völlig verändert, haben einen unumkehrbaren Weg hinter uns. Ich habe in diesem Jahr wohl die größte Angst, den größten Verlust und die größte Enttäuschung über Menschen verspürt. Nie vorher war der Krieg so nah dran wie in den letzten zehn Monaten. Anfangs gab es nur den einen Wunsch, um jeden Preis zu überleben. Und deshalb gab es riesige Schlangen an der Grenze. Die meisten von uns haben sich für immer aus ihrem alten Leben verabschiedet. Aber jetzt sammeln wir alles wieder ein, Stück für Stück geben wir uns zurück von unseren vergangenen Leben. Der Wunsch, um jeden Preis zu überleben, tritt in den Hintergrund. Es herrscht ein seltsamer Fatalismus. Wir haben alle Kaliumjodid für den Fall einer Atombombe gekauft, ich habe Freunde, die im Besitz von Raumanzügen sind. Unsere Badewannen sind stets mit Wasser gefüllt. Wir haben viele Geräte, die ohne Strom funktionieren. Campingkocher. Benzinkanister. Die Fenster sind kreuzweise abgeklebt. Und wir haben keine Lust und keine Kraft, irgendwo hinzugehen, ganz und gar nicht.
VH: In Deutschland haben ein paar mehr Menschen in einer Art Crashkurs davon Kenntnis erhalten, wie gewaltvoll die ukrainische Geschichte der letzten einhundert Jahre war, haben mehr verstanden über die kollektiven Traumatisierungen durch faschistischen und stalinistischen Terror und wie er die gesamte ukrainische Bevölkerung versehrt hat. Vielleicht haben wir auch etwas über die Kraft der ukrainischen Emanzipation, den Weg zur Unabhängigkeit, die ukrainische Kultur und den unzerstörbaren Anteil an schwarzem Humor begriffen. Wie beschreibst du den mentalen Zustand der Ukrainer*innen, wie geht es den Leuten inzwischen?
NV: Ich würde sagen, wir leiden unter Emotionsschwankungen, sitzen auf einer grausamen Schaukel: von Angst, Verzweiflung, Panikattacken, Hass auf den Feind zum emotionalen Hoch, Freude an alltäglichen Dingen, Vertrauen in einen Sieg. Ich habe mein Zuhause noch nie so geliebt wie jetzt. Wenn ich im Ausland bin, lasse ich mir von meinem Mann Fotos schicken, von Straßen, Fenstern, ich schaue sie mir gierig an, erlebe starke Gefühle. Es können auch Fotos von einem Stau sein, einer Wohngegend, von irgend etwas Unattraktivem, das einem lieb und teuer ist. Vor zehn Monaten war unsere Angst primitiv und pur, jetzt ist sie erwachsen geworden und funktioniert selektiv. Wir kennen scheinbar den Algorithmus des Beschusses, beobachten online, wie Drohnen und Bomben die Ukraine anfliegen, und berechnen die Zeit, wann wir wirklich in den Luftschutzkeller gehen sollten. Wir versuchen anhand der Geräusche zu definieren, was da explodiert ist, eine Bombe, eine Shahed-Drohne oder unser eigenes Luftabwehrsystem? Es hängt von der jeweiligen Persönlichkeit ab, ob sich jemand ein dickes Fell zulegt oder die Haut immer dünner wird. Am 31. Dezember fiel eine Rakete in ein Nachbarhaus, meine Tochter und ich waren zuhause, ich hatte ein Sofa bestellt (ja, wir erlauben uns lächerliche Dinge und leisten uns etwas für unsere Zukunft), und es wurde gerade von zwei Monteuren gebracht. Der Putz bröckelte, Fensterscheiben barsten, und diese Monteure reagierten ganz typisch: Einer von ihnen legte sich mit uns im Bad auf den Boden und rief seine Verwandten an, die gar nicht in Kyiv lebten, um sie anzuweisen, schnell in den Keller zu rennen. Der zweite stand am Fenster, bat seinen Kollegen, aus dem Bad zu kommen, die Arbeit schnell zu beenden, um endlich Silvester feiern zu können.
VH: Wir im Westen wurden von diesem Krieg unsanft geweckt und ringen noch immer mit den Konsequenzen, unsere eigene Rolle betreffend, mit dem Eingeständnis unserer politischen Fehler. Was braucht ihr von uns, was sollten wir unterlassen?
NV: Es ist nicht meine Aufgabe, Westeuropäer zu erziehen, ich weiß selbst nicht, wie ich mich verhalten würde, wie viel Verständnis ich aufbringen würde. Als Ukrainerin wünsche ich mir mehr Unterstützung und weniger Reden über die angeblich nicht so einfache Situation. Es ist sehr einfach: Im Augenblick ist Russland der Aggressor, der der Ukraine und Europa Übel und Tod bringt. „Putin nicht provozieren, bitte mit ihm verhandeln“ –diese Aussage ist gleichbedeutend damit, die Waffen niederzulegen und sich unter Besatzung, Unterdrückung und Zerstörung zu ergeben. In unserer Geschichte waren wir nie frei und stark genug, um Russland aus eigenen Kräften zu überwinden. Ich möchte die Europäer bitten, sich der russischen Propaganda entgegenzustellen, denn sie ist immer noch überaus wirksam. Wir brauchen weitere Sanktionen und Waffen, um diesen Krieg zu gewinnen. Versteht bitte den menschlichen Faktor: Nicht alle Ukrainer*innen, die man jetzt treffen wird, sind nette und intelligente Menschen, ich schäme mich oft für das Verhalten meiner Landsleute. Wir sind dankbar, eure Unterstützung ist beispiellos. Wäre die Ukrainische Volksrepublik 1919 auf ähnliche Weise unterstützt worden, wäre die Ukraine längst ein unabhängiges europäisches Land. Aber dieses Szenario kennt die Geschichte nicht.
VH: Was trieb dich beim Schreiben deines Auftragsstücks für die Kammerspiele, „Green Corridors“, an, worum geht es?
NV: Ich versuche intuitiv, meinen Flüchtlingszustand – den kollektiven Zustand – zu erkunden. Meine Erfahrung ist weniger tragisch als die Erfahrungen derjenigen, die nahe beim Feuer der Front geblieben sind. Sie ist aber auch wichtig. Und ich will mich nicht wiederholen, ich habe bereits „Bad Roads” zu diesem Thema geschrieben. Ich habe nur Fragen, keine Antworten. Zwischen fünf und sieben Millionen Flüchtlinge fanden sich innerhalb kurzer Zeit im Ausland wieder. Wie stehen wir zu ihnen? Wie denken wir über uns selbst? Man kann sich selbst nicht entkommen, nicht vor sich selbst weglaufen. Ich schreibe über Missverständnisse und unterschiedliche Wahrnehmungen, unsere von Europa, die europäische von uns, über Post-Trauma, über die unzerstörbare Natur des Menschen, der sich aggressiv und kleinlich oder unerwartet edel zeigen kann. Warum kehren viele von uns aus Gebieten des Friedens und der Sicherheit in die Kriegszone zurück? Das ist ein dummer Traum, alles, was uns widerfährt. Und wie in jedem Traum entgleitet uns die Logik.
Natalka Vorozhbyt
© Theatre of Playwrights (Kyiv)

Natalka Vorozhbyt

ist eine ukrainische Dramatikerin und Drehbuchautorin. Ihre Stücke wurden in vielen ukrainischen Theatern, in Deutschland, Großbritannien, Polen, den USA und Lettland aufgeführt. Weiterhin arbeitete sie mit der Royal Shakespeare Company zusammen. Im Jahr 2004 erhielt sie den Literaturpreis „Eureka“ für das Stück „Galka Motalko“. 2020 erhielt sie den Preis des Filmclubs Verona für den Film „Bad Roads“ sowie den „Film Circle - Opening of the Year“ Award. Außerdem bekam sie 2020 den “Women in Arts Award” für ihren Beitrag zur Film- und Theaterindustrie. 2021 erhielt sie den “Oleksandr-Dovzhenko-Staatspreis” der Ukraine für ihren herausragenden Beitrag zur Entwicklung des ukrainischen Kinos. „Green Corridors“ entstand im Dialog mit der Autorin, ausgehend von der „Sisterhood München – Kyjiw“, einer Partnerschaft, die die Kammerspiele 2020 initiiert haben.

Natalka Vorozhbyts "Green Corridors" ist aktuell in einer Inszenierung von Jan-Christoph Gockel in den Münchner Kammerspielen zu sehen.

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Autor*innentheater Kyjiw

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine verbindet sich das Burgtheater mit dem AUTOR*INNENTHEATER KYJIW zu gemeinsamen Veranstaltungen. Am 24. Februar 2024 zum fünften Mal in Folge.
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