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Nur die Spitze des Eisbergs

Burgtheaterstudio
Lesedauer 13 Minuten

Der Retzhofer Dramapreis, vergeben vom DRAMA FORUM Graz, zählt zu den renommiertesten Nachwuchspreisen für zeitgenössische Dramatik im deutschsprachigen Raum. Gewinnerstück des Jahres 2023 ist MUTTERTIER von Leonie Lorena Wyss. Das folgende Gespräch mit Wyss gibt Einblick in die Entstehung und Konzeption des Stücks, das am 10. Februar 2024 im Vestibül uraufgeführt wurde.

Inszenierungsfoto
© Karolina Miernik
BURGTHEATER Leonie, du hast mit deinem neuen Stück, das im Vestibül des Burgtheaters uraufgeführt wird, den renommierten Retzhofer Dramapreis 2023 gewonnen. Wir gratulieren dir sehr herzlich! Wann hast Du mit der Arbeit an diesem Text begonnen?
LEONIE LORENA WYSS Der allererste Entwurf entstand mit der Einreichung zum Retzhofer Dramapreis, das war gegen Ende des Jahres 2021. Die Fassung von damals hat allerdings kaum mehr etwas mit dem jetzigen Text gemein. Die Suche nach der Form ist bei mir immer eine sehr intensive, eine, die viele Textfassungen und Feedbackschleifen durchläuft. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Schreiben gleicht einem Freilegen von Schichten, einem Graben nach dem, was sich letztendlich Textstand für Textstand, Schicht für Schicht als Fundament und Erzählanlass herausschält. Für diesen Prozess waren die im Rahmen des Dramapreises stattfindenden regelmäßigen Treffen sowie die Textgespräche am Institut für Sprachkunst, mit meiner Lektorin und mit Freund*innen extrem wichtig. Da ich aufgrund von Long Covid leider lange Zeit krank war, konnte ich den Text nicht wie geplant zur Abgabe für den Dramapreis fertigstellen. Erst nach der Verleihung habe ich mich nochmals sehr intensiv mit dem Text beschäftigt und bin in eine lange Korrekturphase gestartet. Die Phase der Überarbeitung ist bei mir genauso wie die Suche nach der Form eine sehr lange, mindestens genauso ausführliche wie die des Schreibens selbst. Letztendlich ist dann im vergangenen Herbst die finale Fassung entstanden, die im Februar 2024 im Vestibül des Burgtheaters uraufgeführt wird.
Was war der Auslöser für eine Familiengeschichte über drei Geschwister, die trotz der schwierigen familiären Situation, bedingt durch die Krankheit der Mutter, immer füreinander da sind und zueinanderstehen? Glaubst du an die Kraft der Geschwisterliebe?
Ich kann nicht mehr genau sagen, was der Auslöser war. Meist beginnt mein Schreiben mit einem losen Fragment, mit einer ersten Idee, die sich dann Stück für Stück weiterentwickelt und aus der heraus Form und inhaltlicher Bogen entstehen. Schon in den ersten Skizzen des Texts hat sich die Konstellation der drei Geschwister herauskristallisiert. Mich hat deren unterschiedlicher Umgang mit der familiären Situation interessiert, deren sich jeweils anders gestaltende Beziehung zur kranken Mutter und ihre daraus resultierende Auseinandersetzung mit Elternschaft und psychischer Erkrankung. Ich habe auch viel Potenzial im spielerischen Moment der Kindheitsszenen gesehen: Das Spiel wird zur rettenden Instanz, zum Ausweg aus dem schwierigen Alltag mit der kranken, abwesenden Mutter und zum Ausgangspunkt einer ganz eigenen, die drei einenden Sprach- und Gedankenwelt.
Hatten Erfahrungen in deiner Kindheit Einfluss auf den Text?
Der Text ist kein autobiographischer. Vielmehr ist mein Schreiben ein Spiel mit der Autofiktionalität. Es schreiben sich immer bestimmte Erfahrungen ein. Mein Schreiben ist eins, das ich – anders als der männliche Genie-Gedanke das proklamiert – immer im Kontext eigener Körperlichkeit und anderer Texte sehe.

„Erzählen selbst wird zum Versuch der Navigation“

Die Geschwister in deinem Stück imaginieren sich aus dem Alltag in eine Scheinwelt. Sie spielen Szenen aus dem Film Titanic nach. Wie bist du auf das Motiv der Titanic gekommen?
Die Entscheidung für ein Motiv ist keine bewusste. Vielmehr entwickelt sich dieses im Laufe des Schreibens, beginnt mit einer ersten Assoziation, einem Ausprobieren, Fortführen und setzt sich dann, wenn es sich tatsächlich als ein den Text durchziehendes Moment herausstellt, als bewusste Auseinandersetzung fort. Für die Titanic-Szenen habe ich während des Schreibens immer wieder einzelne Szenen und Dialogszenen recherchiert. Den ganzen Film habe ich aber tatsächlich erst gegen Ende des Schreibens, als das grobe Gerüst schon stand, geschaut. Ich wollte meinen in der Kindheit geformten Blick auf den Film möglichst beibehalten, diesen auf die drei Figuren übertragen und adaptieren. So wurde mir beim Schauen klar, wie wenig ich als Kind zum Beispiel die Tragweite der Auseinandersetzung mit Klasse verstanden habe. Für mich stand damals vielmehr die tragische Love-Story und der Untergang im Vordergrund. Ich weiß noch genau: Titanic war damals eines meiner immersivsten Seherlebnisse, ich war emotional total involviert.
Wofür steht im Text die berühmte, als unsinkbar gepriesene Titanic?
Das Nachspielen der Titanic-Szenen ermöglicht den drei Geschwistern die eben schon angedeutete Immersion, das Eintauchen in eine komplett andere, fiktive Welt fernab des eigenen, von den Sorgen um die psychisch kranke Mutter geprägten Alltags. Das Spiel wird damit zum überlebensnotwendigen Anker, zur schwimmenden Tür, auf die sie sich wie Jack und Rose retten. Anders als in Szenen des Nachdenkens über die Mutter, gewinnt der Text in den Titanic-Passagen an Tempo, hat einen ganz eigenen Drive, gewinnt an situativer Konkretheit. Welche Fallhöhe diese Momente des Spiels haben, wie fragil sie in ihrer Immersion sind, wird im Laufe des Textes immer deutlicher. Wie die Spitze eines Eisbergs zeichnet sich der Suizidversuch der Mutter als unheilvolle Ankündigung ab und das Erzählen selbst wird zum Versuch der Navigation, zum vielleicht letzten, rettenden Anker.
Abseits der Auswirkung der psychischen Erkrankung der Mutter auf das Erleben der drei Geschwister kann natürlich auch das Krankheitsbild der Depression selbst auf das Bild der Titanic hin gedeutet werden: Das ständige Zusteuern auf den Untergang, der fortdauernde Versuch, sich über Wasser zu halten. Während des Schreibens ist mir zudem immer wieder das Wort „Mutterschiff“ in den Kopf gekommen. Ich habe viele Texte gelesen, in denen es um eine Auseinandersetzung von weiblich gelesenen Personen mit Mutterschaft geht, darum, diese zu bereuen oder gar nicht erst zu wollen. Die Verknüpfung von psychischer Erkrankung und Mutterschaft scheint mir immer noch eine Leerstelle und ein Tabu zu sein. Speziell für chronisch kranke Mütter gleichen die elterlichen Anforderungen einer Fahrt gegen den Eisberg, einem einsamen Steuern auf offener See.
Es ist auffallend, dass die Familienstruktur, die du beschreibst, eine männerlose ist. Ist Familienalltag ausschließlich Frauenalltag?
Nein, das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen. Ganz im Gegenteil: Ich finde es extrem wichtig, dass gerade männliche Perspektiven auf Familie und Care-Arbeit zu Wort kommen. Das ist allerdings nicht Thema dieses Textes. Für MUTTERTIER war es mir ein Anliegen, einen möglichst präzisen Blick auf das Erleben der drei Geschwister zu werfen und in deren Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter die gesellschaftlich immer noch dominierende Vorstellung von Müttern als jederzeit präsente, zur Selbstaufgabe bereite Schutzfiguren zu hinterfragen. Der Mann soll dabei gar keine große Rolle spielen, auch nicht in seiner Abwesenheit an Präsenz gewinnen. Es geht mir nicht darum, mich zu fragen, ob da einmal ein Mann da war, der die vier verlassen hat, oder welche Rolle der Mann in dem Gefüge einnimmt. Vielleicht war ja auch gar kein Mann da. Vielleicht eine Frau. Vielleicht aber hat die Mutter die drei von Beginn an alleine erzogen. Ihre Situation und die der drei Kinder, die Sichtweise weiblicher und nicht-binärer Körper ist es, die mich interessiert und die ich über die Leerstelle des Mannes hinaus in einen gesellschaftspolitischen Kontext setzen wollte. Über die Jacks der Geschichte wurde – wenn auch leider nicht in Bezug auf Vaterschaft und Care-Arbeit – schon so viel geschrieben.
Du hast es gerade schon angedeutet. Welche Rolle spielen die sozialen Verhältnisse in dem Text?
Die Situation der Mutter und der drei Kinder ist eine prekäre, von Überforderung und fehlenden Ressourcen geprägte. Ich habe versucht, diese durch das Setting und bestimmte Details als eine Art Hintergrundfolie mitlaufen zu lassen, die Verhältnisse aber nicht durch einen voyeuristischen Blick auszustellen. Bestimmte Marker sind in dem Text aber auf jeden Fall gesetzt und verweisen auf die Situation vieler alleinerziehender Mütter. Sie sind die am meisten von Armut betroffene Gruppe der Erziehungsberechtigten in der Gesellschaft und werden leider häufig immer noch übersehen oder ignoriert.
Der Text erinnert an eine leichtfüßige, musikalische Stimmenpartitur. Möchtest Du uns mehr darüber erzählen?
Rhythmus ist für mich im Schreiben sehr wichtig. Mich interessiert die Musikalität der Sprache, das Spiel mit Tempo, Auslassung und Wiederholung. Jeder Text hat für mich einen eigenen Sound, eine ganz eigene Dynamik, die ich nicht nur auf der Ebene des Inhalts und der Figuren zu finden versuche, sondern auch in der Sprache angelegt sehe. Bei diesem Stück hat mich dahingehend vor allem das Spiel mit verschiedenen Ebenen interessiert. Mit Spiel und Realität, Jetztzeit und Vergangenheit, dialogischen und monologischen Passagen habe ich versucht, sowohl eine dem Thema gerecht werdende Vielschichtigkeit als auch eine Offenheit herzustellen, die von der Regie genutzt und fortgeführt werden kann. Einen Theatertext betrachte ich immer auch als ein Angebot. Als ein Angebot sowohl für Regie und Spieler*innen als auch für Kostüm- und Bühnenbild, die eigene Perspektive auf Figuren und Konzeption miteinzubringen, ein neues, über den Text hinausgehendes Bild aufzumachen. In diesem Sinne freue mich sehr auf die Inszenierung und den unfassbar präzisen Blick auf den Text von Mia Constantine, auf die tollen Spieler*innen Laura Dittmann, Claudia Kainberger und Lara Sienczak, auf die Bühne und Kostüme von Johann Brigitte Schima und Olga Benkelmann (Mitarbeit) sowie auf die Musik von Kilian Unger und die Dramaturgie von Rita Czapka. Ich bin gespannt!
Portrait Leonie Lorena Wyss
Leonie Lorena Wyss
© Florian Thoss

Leonie Lorena Wyss

studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Madrid sowie anschließend Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Wyss arbeitet als Autor*in und Dramaturg*in in unterschiedlichen Kollektiven und ist neben dem Schreiben in der politischen Bildungsarbeit tätig. Für das Debütstück „Blaupause“ erhielt Wyss den Autor*innenpreis des 40. Heidelberger Stückemarkts sowie den Retzhofer Dramapreis 2023. Zuletzt schrieb Wyss im Rahmen einer siebenteiligen Theaterserie die Episode „was wenn doch“ für das Zimmertheater in Tübingen. 2024 werden Arbeiten am Burgtheater Wien, Schauspiel Köln sowie am Theater Heidelberg zu sehen sein.


 

Infos zum Stück
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Muttertier

Vestibül
Leonie Lorena Wyss
Für junges Publikum

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