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Leseprobe: Nachtfrauen

Maja Haderlap Lesedauer 10 Minuten

Eine Rückkehr in die Südkärntner Heimat steht am Anfang von Maja Haderlaps neuem Roman: Mira muss ihre alte Mutter auf den notwendigen Auszug aus dem jahrzehntelang bewohnten Haus vorbereiten. Die schwierige Begegnung zwischen Mutter und Tochter führt Mira zurück in ihre Kindheit, geprägt von Patriarchat und Katholizismus. So brechen unaufgelöste Konflikte auf, geben jedoch auch Raum für einen Blick in die lang beschwiegenen Lebensgeschichten der Ahninnen. Tagelöhnerin die eine, Partisanin die andere, verbindet sie mit Mira der Kampf um Autonomie.

Autorin Maja Haderlap im Porträt
© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Buchpräsentation im Kasino

Am 19. September präsentierte Maja Haderlap im Kasino ihr für den Österreichischen Buchpreis 2023 nominiertes Werk NACHTFRAUEN. Der Suhrkamp Verlag stellt Ihnen hier einen ersten Auszug aus dem Buch zur Verfügung. 

Leseprobe: NACHTFRAUEN TEIL I

Mira zögerte, bevor sie den Koffer aus dem Abstellraum holte. Mit der Kaffeetasse in der Hand blickte sie fast trotzig aus dem Fenster in den Innenhof ihrer Wiener Wohnung, um sich etwas Zeit zu gönnen, in der nichts geschah, in der sie nichts entscheiden musste. Im Schlafzimmer warf sie den Koffer auf das Bett, klappte die Hälften auseinander und begann, die vorbereitete Kleidung in die Gepäckschalen zu schlichten. Die Unterwäsche, die Strümpfe und Socken hatte sie in Stoffsäcke gelegt, damit sie nicht ungeordnet herumlagen. Im Laufe der Jahre hatte Mira eine eigene Technik des Packens entwickelt, nach der sie ihre Garderobe in durchdachter Reihenfolge in den Koffer legte. Diesmal musste sie nicht lange überlegen, sie würde nur Bequemes für zu Hause mitnehmen, keine eleganten Schuhe oder schwarzes, modisches Zeug, das Mutter nicht mochte.
Den Laptop hatte sie schon am Vorabend in den Rucksack geschoben, in dem sie auch ein paar Bücher verstaut hatte, die sie für die Erschließung durchsehen wollte. Seit sie einmal vergessen hatte, ihre Medikamente einzupacken, und daraufhin in Paris in Panik geraten war, achtete sie darauf, dass sich ihre Tabletten und Globuli immer griffbereit in den Seitenfächern des Reisegepäcks befanden.
Martin hatte schon vor ihr gefrühstückt und das Geschirr in die Spülmaschine geräumt. Er hatte sie auf die Stirn geküsst, bevor er die Wohnung verließ. Schöne Zeit, hatte er gesagt, fahr vorsichtig. Was soll das, dachte Mira, aber Martin glaubte wohl, etwas Aufmunterndes sagen zu müssen. Mira ärgerte sich darüber, dass sie sich ärgerte.

Buchcover NACHTFRAUEN von Maja Haderlap
NACHTFRAUEN von Maja Haderlap
© Suhrkamp Verlag

Die Garagentür hob sich rasselnd, draußen eilten Passanten vorbei, die Sonne schien, immerhin war das Wetter auf ihrer Seite. Sie war froh, nicht bei Regen unterwegs sein zu müssen, und wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie in der Tiefgarage des Wohnblocks in ein Auto stieg und losfuhr.
Die frühmorgendlichen Staus hatten sich aufgelöst, ohne Verzögerung erreichte sie die Stadtgrenze und fuhr auf die Südautobahn. Auf der rechten Fahrspur drängten sich die Lastwagen. Mira trat aufs Gas, um den massigen Transportern zu entkommen, was ihr nur für Minuten gelang.
Stankos Stimme am Telefon fiel ihr ein, seltsam tonlos. Er schien sich nur mit Mühe zu beherrschen. Mira war darauf gefasst gewesen, dass er ihr alle verschuldeten und nichtverschuldeten Versäumnisse vorwerfen würde, aber offenbar fand er in der Kürze keinen Weg, all das loszuwerden, was sich in ihm aufgestaut hatte. Du wirst dich um Mutter kümmern müssen, hatte er gesagt. Wenn er nur an die Kellertreppe denke, die Mutter hinabstürzen könnte. Ich weiß, sagte Mira. Wann kommst du? In zwei Tagen. Stanko legte auf.

Seit langem fiel Mira das Verreisen schwer. Die Leichtigkeit, mit der sie einmal ihre Koffer gepackt hatte, hatte sich inzwischen in etwas Umständliches, Lähmendes verwandelt. Vorbei die Zeit, in der sie kurzentschlossen ihre Siebensachen in eine Tasche gestopft hatte, um mit Martin aufs Land, auf die Rax oder in eine europäische Hauptstadt aufzubrechen. In letzter Zeit achtete Mira darauf, ihr Zeug aufgeräumt und geordnet zurückzulassen, für den Fall, dass ihr etwas zustoßen sollte. Sie wusste nicht, woher dieser Impuls kam, und ging der Sache auch nicht nach. Sie räumte, bevor sie wegfuhr, ihren Schreibtisch auf, schlichtete die Arbeitsunterlagen aufeinander und platzierte die Dokumentenmappe mit den Versicherungspolizzen gut sichtbar im Ablagenschrank.

Die regelmäßigen Besuche im heimatlichen Süden strapazierten sie mehr, als sie zugeben wollte. Obwohl sie es seit Jahrzehnten gewohnt war, dorthin zu fahren, brachten sie die Wechsel aus der städtischen in die dörfliche Welt in Bedrängnis. Nach außen hin waren ihre Ausflüge ohnehin nicht als Reisen erkennbar. Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.

Sie redete sich ein, mit dem Kofferpacken einen Teil ihrer städtischen Existenz ablegen zu müssen. Niemand hatte das ausdrücklich von ihr verlangt, und doch gab sie einem diffusen Gefühl nach, das es ihr nahelegte. Während sie auf der einen Bettseite Wäsche und Kleidung für zu Hause stapelte, streifte sie auf der anderen einen Teil ihrer Person ab, ihr tägliches Hasten in die Bibliothek, ihre Gespräche und Diskussionen, ihre Shoppinglaunen und Ausflüchte, die abendliche Müdigkeit, das Gefühl, es trotzdem nicht geschafft zu haben. Die befüllten Gepäck- schalen gemahnten sie an den Aufbruch. Bevor Mira die Wohnungstür abschloss, sperrte sie ihre Wiener Existenz in den Kleiderschrank. Das schien ihr vernünftig.

 

Herausgegeben im Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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