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Probenbesuch: DREI WINTER

von Anne Aschenbrenner & Jeroen Versteele Lesedauer 4 Minuten

„Darf ich?“ sagt Tena Štivičić und beugt sich über das Bühnenbildmodell, das auf einem Tisch auf der Probebühne 1 im Arsenal steht.

Portraitbild von Tena Štivičić und Martin Kušej vor dunklem Wolkenhimmel
© Andreas Jakwerth /BÜHNE

An den Wänden hängen Detailaufnahmen, Modellfotos und technischen Pläne. Annette Murschetz hat das Bühnenbild für Drei Winter entworfen, am 22. April 2023 kommt das Stück zur Premiere im Burgtheater. Die Dramatikerin ist eben in Wien gelandet. Sie lebt mit ihrer Familie in Glasgow, geboren und aufgewachsen ist sie in Zagreb, wo sie an der Akademie der Darstellenden Künste studiert hat. In Drei Winter erzählt Štivičić die Geschichte der jungen Partisanin Ruža Kralj und ihrer Familie, mit der sie in einem ehemals aristokratischen und nun verstaatlichten Haus in Zagreb lebt. Beginnend in den Ruinen der Monarchie spannt sich die Familiensaga über die Zeit des Kommunismus und des Zerfalls Jugoslawiens bis hin zum EU-Beitritt Kroatiens. „Wir haben hier viermal dasselbe Zimmer, in dem die Familie wohnt und das sich bei jeder Drehung verwandelt“, erzählt Annette Murschetz, und dreht vorsichtig die Räume im Modell. „Wie du siehst, sind die Zimmer nicht immer realistisch eingerichtet, sondern wir haben nach mehr oder weniger abstrakten Elemente gesucht, um sie zum Leben zu bringen. Die Räume werden zu mentalen Umgebungen für die Figuren, die Gefühle wie Angst, Enge und Verlorenheit ausdrücken.“

Bevor die Probe beginnt, begrüßt Tena Štivičić die Schauspieler*innen: Ruža, eine junge Partisanin, die jahrelang gekämpft hat und vor kurzem Mutter geworden ist, wird von Nina Siewert gespielt. Ružas Mutter Monika von Sylvie Rohrer. Aleksandar, Ružas Ehemann, von Tilman Tuppy. Daniel Jesch spielt einen kommunistischen Verwalter. 

Tena Štivičić nimmt am Rand der Probe Platz und schaut zu. Wir sind in Zagreb, 1945. Titos kommunistische Partisanen haben den Kampf gegen die Faschisten gewonnen. Ruža darf sich in der Verwaltung einen Haustorschlüssel aussuchen, irgendeinen. Sie erkennt die Adresse des Hauses, in dem ihre Mutter früher Dienstmädchen war, und nimmt diesen Schlüssel. Er öffnet die Tür zu der Wohnung, in der ihre Familie über Generationen hinweg leben wird.

„Wenn ihr euch während dieser Szene unwohl fühlt, ist das vollkommen normal“

Es ist für die Schauspieler*innen nicht leicht, sich die Szene 1945 in der ehemaligen Aristokratenwohnung zu erarbeiten. Die Figuren reden teilweise aneinander vorbei, die Gespräche über ihre Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg und ihre Zukunftspläne stocken und sind voll von unterschwelligen Konflikten. „Diese Szene ist broken“, erzählt Štivičić, als sie merkt, dass die Schauspieler*innen auf der Suche sind nach einem erzählerischen Fluss, den es nicht gibt. „Alles ist kaputt“. Das Geschirr auf dem Boden, die Sprache. Die Menschen sind selbst auch kaputt, kommen aus einem jahrelangen Krieg, sie wissen nicht mehr, wie sie zusammen sein können. Ruža und ihr Mann Aleksandar haben außerdem für unterschiedlichen Lager gekämpft und waren während ihrer fünfjährigen Ehe vielleicht einmal drei Tage lang zusammen, Ruža hat ihr Baby draußen im Wald zur Welt gebracht. Aleksandar hat für die Falschen gekämpft und muss seine Vergangenheit auslöschen, für ihn eine große Erniedrigung. Und jetzt leben sie auch wieder in dem Haus, aus dem Ružas Mutter als armes Dienstmädchen schwanger weggeschickt wurde. Zwischen den Figuren kann es in diesem Moment keine Intimität geben. Sie sind traumatisiert, es hängt eine enorme Spannung in der Luft. „Wenn ihr euch während dieser Szene unwohl fühlt, ist das vollkommen normal“.

„Was genau hast du geopfert?“

Theaterproben kennt Tena Štivičić. Ihr Mann ist Schauspieler und auch bei den Inszenierungen ihrer eigenen Stücke hat sie immer wieder Probenprozessen beigewohnt. Die nächste Szene: Ein Zeitsprung ins Jahr 2011. Das Haus ist jetzt Schauplatz eines Abendessens im Kreis der Familie. Die nun 66-jährige Mascha (Regina Fritsch), die damals als Ružas Baby mit in die Wohnung gezogen ist, wohnt mit ihrer Schwester Dunja (Zeynep Buyraç) und ihrem Ehemann Vlado (Norman Hacker) noch immer hier. Ihre Tochter Alisa (Nina Siewert) lebt in London und ist zu Besuch, denn ihre Schwester Lucija (Andrea Wenzel) wird morgen einen Unternehmer heiraten. Kroatien führt Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Vlado hält leicht angetrunken eine Rede auf seine Töchter. 

„Wer glaubt, eine Ehe wäre einfach, irrt sich. Es ist ein Lebensweg, der große Opfer verlangt“, spricht er. „Was genau hast du geopfert?“, kontert Mascha, seine Frau. „Ich würde einiges geben, um zu erfahren, was du geopfert hast.“ Allgemeines Gelächter auf und abseits der Bühne, auch von Tena Štivičić, die gut Deutsch versteht. Ihr Stück wird von starken, schlagfertigen Frauenfiguren getragen und ist auch eine kleine Geschichte der Emanzipation. „Obwohl die Partisanin Ruža in den Szenen in 1945 ganz klar die Stütze der Familie ist, kann sie ihrem Ehemann gegenüber noch nicht ihren eigenen Willen durchsetzen“, sagt sie. „Die kroatische Gesellschaft war dafür damals noch viel zu paternalistisch strukturiert. Aber 1990 und vor allem 2011 sehen wir, wie die männliche Autorität bröckelt, ja von den Frauen ziemlich lächerlich gemacht wird.“

Gegen Probenende kommt auch Branko Samarovski dazu, er spielt den alten Aleksandar Kralj, Dunjas und Maschas Vater. Seine Szenen werden heute nicht geprobt, aber er ist trotzdem gekommen, um die Autorin zu treffen. „Ihr Stück hat mich besonders getroffen“, sagt er. „Es fühlt sich an, als ob es einen Teil meiner eigenen Familiengeschichte erzählt.“ Samarovski ist 1939 in Zemun, im Königreich Jugoslawien, geboren, und fünfjährig nach Österreich geflüchtet. Seine Großmutter hat ihm viel von der faschistischen Ustascha erzählt, sein Großvater wurde damals erschossen. Branko Samarovski und Tena Štivičić unterhalten sich angeregt in einem Mix aus Kroatisch, Serbisch, Englisch und Deutsch.

Auf der Bühne steht immer noch Norman Hacker, und probt Vlados Rede. „Was heißt denn Prost auf Kroatisch?“ möchte er wissen. „Živjeli!“ ruft Štivičić hoch. „Živjeli“ – die geplagte Familie Kralj, Familienname Kos, stößt gemeinsam auf die morgige Hochzeit an und erlebt, ganz am Ende der Szene, einen kurzen Moment der Gemeinschaft. Blackout – und die Bühne dreht sich – zur nächsten Szene.

Ein Portätbild der Tena Štivičić  kroatischen Dramatikerin und Drehbuchautorin in farbe.
Tena Štivičić
© Privat

Tena Štivičić

(*1977) ist eine kroatische Dramatikerin und Drehbuchautorin. Sie wurde in Zagreb geboren, wo sie an der Akademie der Darstellenden Künste studierte. Anschließend absolvierte sie den Masterstudiengang Writing for Performance des Goldsmiths College in London. Ihre Stücke schreibt sie sowohl auf Englisch als auch in ihrer Muttersprache Kroatisch.

Zum Stück
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Drei Winter

Burgtheater
Tena Štivičić
Magazin #15: Zauber

Musen und Dämonen

Burgtheaterstudio
Anja Sczilinski, Katrin Artl und Anna Manzano über den Prozess des Theatermachens und über Geister. Sowohl eingebildete als auch reale.

Schreibweisen #7: Die Hoffnung auf ein besseres Leben

Schreibweisen
Wie geht es Autor*innen am Schreibtisch? Ein Porträt über THOMAS PERLE, Sprache und seinem Stück KARPATENFLECKEN.

Reflektion über das Verschwinden

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Das Gespräch mit Lisa Rastl führte Anne Aschenbrenner.

Fragebogen #7: DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT

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Wir luden die Sozialanthropologin, Künstlerin und Aktivistin Anahita Neghabat zu einer Vorstellung von DIE ENGEBORENEN VON MARIA BLUT ein. Ihre Eindrücke hielt sie in unserem Fragebogen fest.

Wer hat den Menschen ersonnen?

Fundstück
Copyright auf den menschlichen Körper? Am 18. März 2023 kam das von Dead Centre inszenierte Stück KATHARSIS zur Premiere. Grundlage war der Fragmentroman „Unrast“ von Olga Tokarczuk, aus dem wir hier einen Ausschnitt präsentieren.

Probenbesuch: DREI WINTER

Ein Probenbesuch mit Tena Štivičić bei den Proben ihres Stücks DREI WINTER.

Kroatien 2023

In DREI WINTER beleuchtet die Autorin Tena Štivičić die kroatische Geschichte in historischen Rückblicken. Was können wir aus der Vergangenheit lernen? Die Historikerin Marie-Janine Calic über Kroatien 2023.

EDITORIAL #15

von Jeroen Versteele & Victor Schlothauer
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